Irak: "Sie gingen von Haus zu Haus und töteten alle"

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Yeziden, die sich vor dem Furor der Islamisten retten konnten, berichten von deren Gräueltaten.

Keiner kann sich mehr zurückhalten, alle sprechen einfach drauflos, gestikulieren aufgebracht, fallen einander ins Wort. Ihre Gesichter sind unrasiert, die Haare verstaubt, die Kleidung mit Flecken übersät. Alle möchten ihr Leiden, den Schrecken und den Horror, die sie in den vergangenen zehn Tagen durchmachten, unbedingt loswerden. Die rund 15 Männer und Jugendlichen gehören zu den ersten Yeziden, die die Flucht vom Berg Sinjar geschafft haben. Sie sind gerade auf sicherem kurdischen Gebiet, im 90 Kilometer entfernten Zakho angekommen. Die Männer berichten von Exekutionen, ermordeten Kindern, gekidnappten Frauen, von Hunger und Durst: „Wir können von Glück reden, noch am Leben zu sein. Aber wir haben alles verloren, unseren gesamten Besitz“, sagt Swan, ein ehemaliger Lehrer. „Ich habe meinen Hof mit einer Herde von 2000 Schafen verloren, wirft Said ein, ein älterer, schmächtiger Herr mit grauem Schnauzbart und Turban.

Es ist die tragische Geschichte der Yeziden, einer der ältesten religiösen Minderheiten im Irak, die Opfer der Extremisten der Gruppe „Islamischer Staat“ (IS) geworden ist. Wie Vandalen waren die Islamisten vor über einer Woche in yezidische Dörfer und Städte im Norden des Irak eingefallen. „Sie gingen von Haus zu Haus und töteten alle, die ihnen in die Hände fielen“, erzählt Swan. Wieder rufen alle wild durcheinander: „Meinem Onkel haben sie den Arm abgehackt und ihn dann erschossen, obwohl er schon über 80 Jahre alt war.“ – „Meinem Vater wurde der Kopf abgeschnitten.“ – „Ein Mann musste sich niederknien, mit der Pistole am Kopf wollte man ihn zum Islam bekehren. Er weigerte sich und wurde erschossen.“

Konvertieren zum Islam – oder Tod

Laut der irakischen Regierung sollen mindestens 500 Yeziden, darunter 40 Kinder, getötet worden sein. Zurzeit sind rund 300 yezidische Familien aus Koja, Hatimiya und Qaboshi vom Tod bedroht. Diese Dörfer sind von IS-Mitgliedern umstellt, und die sunnitischen Islamisten fordern die Yeziden auf, zum Islam zu konvertieren, sonst würde man sie töten.

Die Region Sindjar ist die Heimat von 130.000 Yeziden. Für sie ist Verfolgung nichts Neues. Im 18. und 19. Jahrhundert, im Osmanischen Reich, wurden an ihnen immer wieder Massaker verübt. Auch Saddam Hussein verfolgte sie, und nach dem Ende seiner Diktatur waren sie Ziel von Anschlägen. „Al-Qaida im Irak“, die Vorgängerorganisation von IS, erklärte sie zu Ungläubigen, die man jederzeit töten dürfe.

Die Männer in Zakho haben mit ihren Familien nur überlebt, weil sie im letzten Moment fliehen konnten. Großteils nur mit den Kleidern am Leib suchten sie mit zehntausenden Glaubensgenossen Unterschlupf auf dem heiligen Berg von Sinjar. Das ist ein 60Kilometer langer und 1463 Meter hoher Bergrücken, auf dem die Arche Noah ihren letzten Ankerplatz gefunden haben soll. Dort liegt auch die heiligste Stätte der Yeziden, der Lalisch-Tempel. „Wir schliefen in den Tempelanlagen“, erzählt Swan. Da habe man sich sicher vor dem unaufhörlichen Beschuss des IS gefühlt. „Zu essen und zu trinken gab es dort nichts“, fügt Said, der Schafbauer, an, der mit seiner gesamten Großfamilie von 300 Mitgliedern auf den Berg geflüchtet ist. Er öffnet eine Wasserflasche und füllt zur Demonstration ein paar Tropfen in den Deckel: „So haben wir getrunken.“ Von Hilfslieferungen, die von der irakischen Armee abgeworfen wurden, will er nichts wissen. Man habe nichts bekommen, so der Tenor der Umstehenden.

Gut möglich, dass die Hubschrauber und Transportmaschinen viele Flüchtlingsgruppen auf dem riesigen und unübersichtlichen Gelände nicht erreichten. „Ohne Wasser und Essen, das konnten gerade Kinder und Alte nicht lange aushalten“, sagt Swan. Immer wieder habe man Leichen gefunden.

Gerettet von syrischen Kurden

Kämpfer des syrischen Ablegers der PKK hätten sie schließlich in die Freiheit gebracht. „Sie haben einen Fluchtkorridor freigemacht, uns zuerst nach Syrien und danach in den Irak gebracht.“ Von den Peshmerga habe man nichts gesehen, fügt Swan hinzu, die anderen nicken. Sie wissen alle, dass das in Irakisch-Kurdistan ein Politikum ist und nicht gerne gehört wird. Hier feiern alle lokalen TV-Kanäle die Soldaten der Peshmerga als Helden der Befreiung der Yeziden. „Nein, nein, es gab keine Peshmerga“, versichern die Geretteten erneut. „Wir können doch die Abzeichen an den Uniformen lesen.“

Zwischen der Regierung Irakisch-Kurdistans auf der einen und der PKK aus der Türkei sowie den syrischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) auf der anderen Seite besteht eine Rivalität, die auf politische und ideologische Konflikte zurückgeht. Die kurdischen Organisationen aus Syrien folgen Abdullah Öcalan, der in der Türkei eine lebenslange Haftstrafe absitzt. Der Konflikt führte sogar so weit, dass die autonome Kurden-Region heuer die Grenze zu Syrien drei Monate lang dichtmachte, obwohl im Nachbarland Bürgerkrieg herrscht.

Yeziden wollen jetzt selbst kämpfen

Aber nun hat der Kampf gegen IS die Rivalen zusammengebracht. „Natürlich kooperieren wir jetzt“, sagt Sirwan Barzani, führender Kommandeur der Peshmerga und Neffe von Kurdistans Präsidenten, Massoud Barzani.

Es dürfte kein Wunder sein, dass die yezidischen Flüchtlinge von YPG-Kämpfern gerettet wurden. Sie haben aus Syrien einen besseren Zugang. Die Peshmerga stehen auf irakischer Seite im Kampf mit IS, und ihre Mobilität ist eingegrenzt. „Wir sind nur zwei Kilometer von IS getrennt“, berichtete Tristka, ein Peshmerga-Soldat von der Front am Berg Sinjar. „Wir können nur mit Duschka-Luftabwehrgeschützen und Heckenschützengewehren schießen“, erzählte er am Telefon. „So geht das schon tagelang.“

Von ihrer negativen Meinung über die Peshmerga lassen sich die Yeziden in Zakho nicht abbringen. Sie wollen jetzt selbst für ihr Volk und ihre Religion kämpfen. „Wir nehmen unser Schicksal selbst in die Hand und kämpfen mit Kassem Schäsch“, sagen Swan und Said euphorisch und mit entschlossenem Gesichtsausdruck. „Dieser Mann ist der eigentliche Held vom Berg Sinjar“, sagen sie. Kassem Schäsch habe mit einer Truppe von 400 Mann mehrere Versuche des IS, auf den Berg vorzustoßen, abgewehrt. „Er ist Iraker, hat aber einen deutschen Pass“, erklärt ein älterer Herr, der sich plötzlich nach vorne drängt. „Als Schäsch von unserer schrecklichen Situation hörte, ist er sofort in den Irak geflogen, um zu helfen. Er ist ein tapferer Mann.“ Der Miliz von Kassem Schäsch wollen sich jetzt alle hier in Zakho anschließen.

Bevor es dazu kommt, müssen sich die Männer erst einmal um ihre Familien kümmern. Nach der Flucht hat man behelfsmäßige Zelthütten am Straßenrand gebaut. Ohne Wasser und Strom ist es kein Paradies in der staubigen Sommerhitze von fast 50 Grad. Man ist hier zwar auf kurdischem Boden in Sicherheit, aber die Zukunft steht in den Sternen. „Wir wissen nicht, wovon wir leben sollen“, sagt Swan deprimiert. „Wir haben nicht einmal genug zu essen. Wer wird uns helfen?“ Die Leidensgeschichte der Yeziden ist auch in Freiheit noch lange nicht zu Ende.

HINTERGRUND

Weltweit gibt es rund 700.000 Yeziden. Die überwiegende Mehrheit, nach Schätzungen rund 500.000, lebt im Irak. Ihre Religion ist eine Mischform aus Elementen von Islam, Christentum und Hinduismus. Sie haben ein Kastensystem, glauben an Reinkarnation, führen eine Taufe durch, brechen bei der Eucharistie das Brot und trinken Wein. Die Buben werden beschnitten wie im Judentum und im Islam. Für IS sind die Yeziden „Teufelsanbeter“. Hintergrund dessen ist die Figur von Melek Taus, dem „Engel Pfau“, der sich gegen Gott erhoben hat. In anderen Religionen schmort er in der Hölle, während ihm bei den Yeziden seine Schuld vergeben wurde und er als zu verehrender Engel gilt. Die puritanisch-konservativen Islamisten von IS kennen dafür nur eine Strafe – den Tod.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.08.2014)

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