Brasilien: Der Überraschungscoup der Ökoaktivistin

Brazilian politician Silva grabs the hand of the widow of Eduardo Campos in Recife
Brazilian politician Silva grabs the hand of the widow of Eduardo Campos in Recife(c) REUTERS (RICARDO MORAES)
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Ex-Umweltministerin Marina Silva steigt als Präsidentschaftskandidatin in den Ring und macht die Amtsinhaberin und erklärte Favoritin, Dilma Rousseff, nervös. Silva spricht vor allem die unzufriedene Mittelschicht an.

Rio de Janeiro. Schon vor ihrer offiziellen Kür zur Spitzenkandidatin am Mittwochabend hat Marina Silva den brasilianischen Wahlkampf auf den Kopf gestellt. Gleich nach dem Flugzeugabsturz von Eduardo Campos vor einer Woche war die Ökologie-Aktivistin ins Zentrum der politischen Spekulationen gerückt, und Auguren geben ihr durchaus gute Chancen bei der Wahl am 5.Oktober, zumindest in eine Stichwahl gegen Amtsinhaberin Dilma Rousseff zu kommen und sie sogar zu besiegen.

Die Ex-Umweltministerin hatte sich vor neun Monaten dem aufstrebenden Ex-Gouverneur Campos angeschlossen, weil sie nach ihrem Austritt aus der grünen Partei keine eigene Gruppierung hatte, um eine teure Kampagne in dem Riesenland aufzunehmen. Und nun baten nicht nur die Hinterbliebenen des 49-jährigen Campos, dass Silva dessen Kampagne zu Ende führe.

Auch die Brasilianer scheinen von der Idee mehr als angetan: Die Meinungsforscher von Datafolha sehen Silva in einer jüngsten Umfrage bei 21Prozent der Stimmen. Damit liegt die 56-Jährige knapp vor dem bisher an zweiter Stelle gereihten Aecio Neves, der für die sozialdemokratische Partei kandidiert. Sie deckt in Brasilien das konservative Lager ab.

Ressentiments gegen Rousseff

Angeführt werden die Umfragen weiterhin von der Präsidentin Rousseff von der seit 2003 regierenden Arbeiterpartei (PT). Sie könnte derzeit mit 36Prozent rechnen, würde die nötige absolute Mehrheit aber klar verfehlen. Nach Einschätzung der Meinungsforscher hätte Silva sogar Chancen, Rousseff in der Stichwahl zu schlagen. Laut Datafolha hält die Außenseiterin mit 49Prozent momentan zwei Prozentpunkte vor der Amtsinhaberin, gegen die in einem großen Teil der Bevölkerung Ressentiments vorherrschen.

Die sensationellen Umfragezahlen mögen sich mit dem allgemeinen Schock nach dem Flugzeugabsturz des Kandidaten Campos erklären. Die Befragungen wurden kurz nach der Katastrophe in der Hafenstadt Santos durchgeführt. Aber diese Zahlen spiegeln doch jenen Verdruss wider, den Brasiliens Bürger seit mehr als einem Jahr immer wieder öffentlich manifestieren.

Marina Silva, die in extremer Armut geboren wurde, die erst als junge Erwachsene lesen und schreiben lernte, die sich im Kampf um den Erhalt der Regenwälder mit dem Establishment anlegte und die ihr Ministerbüro sowie ihr PT-Parteibuch zurückgab, weil sie mit dem umweltverzehrenden Wachstumskurs von Lula und Dilma nicht einverstanden war, hat sich als Kandidatin der unzufriedenen Mittelklasse etabliert. Dass ihr bislang keinerlei Korruptionsvorwürfe anhaften, macht sie zu einer raren Spezies im Machtmorast von Brasilia. Und dass die vierfache Mutter eine praktizierende evangelikale Christin ist, verschafft ihr im hochreligiösen Brasilien eher Zuspruch als Kritik. Silva kann vor allem auf große Zustimmung von jenen etwa 30Prozent der Wahlberechtigten hoffen, die bisher unentschieden waren oder die sich ihrer Wahlpflicht mit einem ungültigem Votum entledigen wollten.

Nun wird allgemein damit gerechnet, dass die regierende PT bis zum 5.Oktober mit einem Linksruck versuchen wird, Silvas Wahlchancen zu dezimieren. Für die PT-Strategen scheint der Konservative Neves als der leichtere Gegner in einer Stichwahl. Trotz massiver Unterstützung durch Industrie und Kapital rangiert der ehemalige Gouverneur des Staates Minas Gerais, ein Vertreter der reichen Oberschicht, in allen Umfragen weit hinter Rousseff.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.08.2014)

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