Jihadisten in Syrien: Plötzlich Held sein

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Junge Tschetschenen sehen im Kampfeinsatz einen Ausweg aus der als bedrückend erfahrenen Realität – und können gleichzeitig ein Männlichkeitsideal erfüllen.

Wien. Immer wenn Hussein Ishanow von jungen Tschetschenen hört, die sich den Jihadisten in Syrien oder dem Irak anschließen wollen, findet er das „schrecklich“. Jetzt ist wieder so ein Moment. Eben ist Ishanow der Fall von den neun tschetschenischen Jugendlichen – acht Männern und einer Frau – zu Ohren gekommen, die am Montag von den österreichischen Behörden an ihrer Reise in das Kampfgebiet jihadistischer Organisationen gehindert wurden. Immer öfter kommt es vor, dass sich die Jungen den Jihadisten anschließen. Ishanow kann von vielen Fällen erzählen. Etwa 25.000 Tschetschenen leben in Österreich, ein Gutteil davon in Wien. Die Community ist groß, doch das Netz der Gemeinde engmaschig, und die Fälle der Gotteskrieger sprechen sich schnell herum. Manche kehren zurück. Viele sterben. Ishanow schüttelt den Kopf. „Die Tschetschenen haben dort doch überhaupt keine Interessen.“ Aus seiner Sicht nicht. Aus der Sicht des globalen Jihadismus, der den nationalen Befreiungskampf als gestrig erachtet, schon.

Ishanow ist eine Respektsperson in der tschetschenischen Gemeinde in Österreich. Er besitzt den Pass eines Konventionsflüchtlings und den Pass der Republik Itschkeria, mit dem er freilich nicht reisen kann. Die Republik Itschkeria, das von Russland unabhängige Tschetschenien unter Ex-Präsident Aslan Mashadow, gibt es nicht mehr. Ishanow ist ihr treu geblieben, auch im Exil. Doch er muss miterleben, wie seine Autorität bei den Anhängern des islamistischen Kampfes schwindet. Das Innenministerium schätzt, dass mehr als die Hälfte der aus Österreich stammenden Jihadisten in Syrien einen tschetschenischen Hintergrund haben. Warum sind die Kaukasier so anfällig für die Lockrufe der Islamisten im Nahen Osten?

Seit 20 Jahren prägt Krieg das Leben der meisten tschetschenischen Familien – vor allem auch jener, die aufgrund von politischer Verfolgung das Land verlassen haben. Männer sind in besonderem Maße betroffen: als Kämpfer, Folteropfer, Folternde, Verletzte, Verschwundene, Gefallene. Die Jugendlichen, die vor allem über das Internet und Werber angeheuert werden, haben niemals gekämpft. Sie sind zu jung dafür. Sie kamen als (Klein-)Kinder nach Österreich oder wurden sogar hier geboren. Sie kennen den Krieg in Tschetschenien vor allem aus den Erzählungen ihrer Eltern. Aber auch sie wissen, dass der – nunmehr von den Islamisten angeführte – Kampf im Nordkaukasus so gut wie aussichtslos ist. Der langjährige Islamistenführer Doku Umarow wurde vor Monaten getötet, seine im Wald verbliebenen Kämpfer sind in der Defensive: Es ist ein zermürbender Guerillakrieg, keine Aussicht auf Gebietsgewinne.

Einmal Sieger sein

In Syrien ist das anders: Das vom Islamischen Staat propagierte Kalifat hat eine Sogwirkung. Dagegen scheint das Kaukaus-Emirat, das Umarow einst ausrief, nur mehr als Nebenfront. In Syrien und dem Irak findet heute die medienwirksame Entscheidungsschlacht statt. „Dieser Kampf erscheint erfolgversprechender“, sagt Joachim Frank, Vorstandsmitglied der Österreichisch-Kaukasischen Gesellschaft. „In Syrien und im Irak wähnt man sich auf der Siegerstraße, dort sind die Islamisten die neuen Herren.“ Die von Internet und Videospielen geprägte Generation dürften die professionell angefertigten IS-Videos beeindrucken: In ihnen wird der Krieg zur gerechten Sache überhöht und gleichzeitig zum Kriegsspiel verharmlost.

Neben der visuellen Kraft und den Erfolgsaussichten ist die einfachere Logistik ein weiterer Grund, warum kampfbereite junge Tschetschenen dieser Tage nach Syrien gehen – und nicht in den russischen Nordkaukasus: Das Land ist – mithilfe von Schleusern – über die Türkei leicht erreichbar. Die Gefahr, bei der Einreise nach oder in Russland gestoppt zu werden, ist viel größer.

Nicht länger ohnmächtig und nutzlos

Tschetschene Ishanow beklagt im Gespräch außerdem den Zerfall der traditionellen Werte in der Emigration: Aus Großfamilien würden Kleinfamilien, der Dialog der Generationen – und die Achtung vor den Älteren – gehe verloren. Ishanow hat einen lang gehegten Traum: ein tschetschenisches Kulturzentrum, in dem Sprache und Kultur an die Jungen weitergegeben werden sollen. Doch die Realität in Wien ist eine andere: Aufgrund von Perspektivlosigkeit und beengter Wohnsituation „hängen die Jugendlichen auf der Straße herum“, sagt er. „Sie sind ein leichtes Opfer für Propaganda.“ Freilich ist der Kampfeinsatz ein geschlechtsspezifisches Problem: Frauen sind in der Minderzahl.

Christoph Riedl, Geschäftsführer der Diakonie Flüchtlingshilfe, sieht aufgrund des patriarchal geprägten Wertekatalogs bei der Integration größere Herausforderungen für die Männer: In Tschetschenien seien Männer traditionell Ernährer und Beschützer ihrer Familien. In Österreich angekommen, übernehmen häufig Frauen ganz pragmatisch wichtige Aufgaben. „Die Männer wissen nicht, was sie tun sollen“, sagt Riedl. „Plötzlich sind sie degradiert zum Danebensitzen.“ Von Ohnmacht, Nutzlosigkeit und Ablehnung berichten viele. In dieser Lage könnten Jugendliche auf die falsche Bahn geraten. Auch Joachim Frank bestätigt: „Diese Jugendlichen fühlen sich schlecht in Österreich, haben keinen Job und kein Geld. Gleichzeitig lastet auf ihnen das tschetschenische Ideal der männlichen Ehre – sie glauben, etwas Ehrenvolles tun zu müssen. In den Krieg zu ziehen ist eine Variante.“

Riedl, der von keinem „importierten Problem“ sprechen möchte, sieht den Schlüssel in Integrationsprojekten. Gerade im Bereich von Bildung – etwa dem nachträglichen Erwerb der mittleren Reife – gebe es jedoch wenig Angebote. Man verließe sich zu sehr auf den Familienverband, der jedoch überfordert ist. Zum Vergleich: Für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge – die Mehrheit davon sind Afghanen – gibt es ein viel üppigeres Betreuungsangebot. Als „Problemgruppe“ sind sie bisher nicht in Erscheinung getreten. Riedl denkt, dass das kein Zufall ist.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.08.2014)

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