IS-Jihadisten zwingen den USA ihre Agenda auf

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USA HAGEL PENTAGON DEFENSE(c) APA/EPA/SHAWN THEW
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US-Verteidigungsminister Chuck Hagel spricht von einer Bedrohung völlig neuer Dimension und bereitet sein Land auf einen langen, intensiven Kampf vor. Auch Luftschläge gegen IS-Bastionen in Syrien sind nicht mehr tabu.

Kairo/Bagdad. Die Botschaft aus dem Pentagon ist ungeschminkt: Um die Brigaden des Islamischen Staates (IS) zu bekämpfen und eine Kernschmelze der arabischen Staatenwelt zu verhindern, sind wesentlich intensivere internationale Militäraktionen nötig – wahrscheinlich auch in Syrien. Die IS-Gotteskrieger seien „jenseits von allem, was wir bisher gesehen haben“, sagte US-Verteidigungsminister Chuck Hagel. Er und Generalstabschef Martin Dempsey sprachen von einem „neuen Paradigma“ der Bedrohung. „Sie verknüpfen Ideologie mit ausgefeilten strategischen und taktischen Fähigkeiten. Sie sind finanziell unglaublich gut ausgestattet.“

Um diese langfristige Gefahr zu kontern, müssten „alle Instrumente nationaler Macht – diplomatische, wirtschaftliche, geheimdienstliche und militärische“ – eingesetzt werden, erklärten die beiden Chefmilitärs, wobei sie offenließen, ob damit auch Bodentruppen gemeint sind. Damit haben die USA für sich und ihre Alliierten neue Maßstäbe gesetzt – für die „apokalyptische“ Gefahr durch den IS, für die Bedrohung der nahöstlichen Region und der westlichen Welt sowie für die Dimensionen der erforderlichen Gegenwehr.

Denn die Pentagon-Planer wissen, dass sich eine hoch motivierte, taktisch geschulte und exzellent bewaffnete Truppe wie IS nicht allein durch Luftangriffe ausschalten lässt. Raketentreffer können Konvois oder einzelne gepanzerte Fahrzeuge und Geschütze zerstören. Aus eroberten Städten jedoch lassen sich die Gotteskrieger aus der Luft nur vertreiben, wenn man ganze Wohnviertel in Schutt und Asche legt – eine Erfahrung, die die Bewohner der im Jänner besetzten irakischen Stadt Falluja bereits machen mussten. Ganze Straßenzüge liegen in Trümmern, mehr als 200.000 Einwohner sind geflohen.

Netzwerke von Tunneln

Unter der Erde haben die Gotteskrieger Netzwerke von Tunneln angelegt, die es ihnen erlauben, überraschend anzugreifen und sich sofort wieder zurückzuziehen. „Wir können sie nicht schlagen“, erklärte ein irakischer Offizier. „Sie sind wie Geister – sie tauchen auf, schlagen zu und sind Sekunden später wieder wie vom Erdboden verschluckt.“ Auch die Erfahrungen der Nato-Operationen in Libyen vor drei Jahren zeigen die Grenzen eines modernen Luftkrieges. Acht Monate und nahezu 10.000 Angriffe waren nötig, bis die Rebellen die 30.000 Elitetruppen Muammar al-Gaddafis in die Knie zwingen konnten.

Die IS-Extremisten im Irak sind zudem bestens bewaffnet. Allein in Mosul fielen ihnen Waffen und Fahrzeuge aus US-Lieferungen für 60.000 Mann in die Hände. Aus Beständen der syrischen Armee verfügen sie über mindestens 20 Panzer. Die Zahl der IS-Kämpfer wird mittlerweile auf 50.000 geschätzt, darunter 12.000 Ausländer. Abertausende neuer Jihadisten werden durch die IS-Siege im Irak angelockt. In Syrien und Mesopotamien kontrollieren die Extremisten inzwischen 40 Prozent des Territoriums, eine Fläche von der Größe Großbritanniens.

„Wenn Sie mich fragen, ob IS geschlagen werden kann, ohne auch den Teil der Organisation in Syrien anzugreifen – die Antwort ist nein“, erklärte Generalstabschef Dempsey, der bisher stets vor einer Intervention gewarnt hatte. Luftangriffe in Syrien würden die USA und den Westen nach gut drei Jahren erstmals offen in den Bürgerkrieg hineinziehen, der bisher 191.000 Menschen das Leben kostete. Anderenfalls behielte IS in Syrien einen Rückzugsraum.

„IS muss überall bekämpft werden, im Irak wie in Syrien“, plädiert Atheel al-Nujaifi, Ex-Gouverneur der Provinz Ninive, der in den kurdischen Nordirak geflohen ist. „Das Problem jedoch ist, Verbündete auf dem Boden zu finden. Jets allein können die Schlacht nicht gewinnen.“ Die sunnitische Bevölkerung im Irak und Syrien aber wird sich nur gegen IS mobilisieren lassen, wenn die schiitisch dominierten Regime in Bagdad und Damaskus endlich ihren Forderungen entgegenkommen. In Syrien wird der Aufstand gegen Bashar al-Assad mehrheitlich von Sunniten getragen. Im Irak machen viele Sunniten mit den Radikalen gemeinsame Sache, weil sie sich in den letzten acht Jahren von der Zentralregierung unter Nuri al-Maliki diskriminiert fühlten. Der designierte Premier Haidar al-Abadi gilt als kompromissbereiter, ob das aber reicht, um die Sunniten wieder auf die Seite Bagdads zu ziehen, ist offen.

Auf der Straße abgeschlachtet

Denn wer sich im Herrschaftsgebiet des „Kalifats“ den IS-Kriegern entgegenstellt, riskiert alles. Das sunnitische Dorf Zowiya nahe Tikrit wurde dem Erdboden gleichgemacht, über 200 Häuser systematisch gesprengt. In Ostsyrien wiederum wehrten sich Angehörige eines Stammes gegen die Beschlagnahme ihrer Ländereien und verjagten die Jihadisten. Im vergangenen Monat kamen diese zurück und nahmen fürchterliche Rache. Hunderte Mitglieder des Stammes wurden verschleppt und getötet, einige auf offener Straße mit Messern abgeschlachtet.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.08.2014)

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