Ferguson und die Krise der US-Vorstädte

Jon Pirtle protestiert in Ferguson:
Jon Pirtle protestiert in Ferguson: "Das Volk sollte nicht die Regierung fürchten, die Regierungs sollte das Volk fürchten."(c) REUTERS
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Die Unruhen nach der Erschießung des schwarzen Jugendlichen Michael Brown werfen ein Schlaglicht auf die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Probleme des suburbanen Amerika.

Der Canfield Drive in Ferguson City sieht aus wie viele vorstädtische Wohnstraßen in Amerika. Einstöckige, einförmige Häuser mit gemähtem Rasenstück wechseln sich mit neueren, zweistöckigen Sozialwohnungen ab. Es ist sauber und ruhig. Wäre hier nicht vor zwei Wochen ein Jugendlicher namens Michael Brown mitten auf der Straße verblutet, wäre der Canfield Drive keine weitere Erwähnung wert.

Doch Michael Browns Tod durch sechs Kugeln aus der Dienstwaffe eines Polizisten hat diesen Ort kurzfristig in den Mittelpunkt des weltweiten Interesses gerückt. Viel war seither zu lesen und zu hören über die Feindseligkeit der fast ausschließlich weißen örtlichen Polizei gegenüber der zu zwei Dritteln schwarzen Bürgerschaft.

Dabei wird allerdings übersehen, dass Ferguson kein Einzelfall ist. Vielmehr illustriert diese rund 21.000 Einwohner zählende Gemeinde, die zwischen dem internationalen Flughafen von St. Louis und mehreren Autobahnen eingezwängt ist, all die Probleme, mit denen Amerikas Vorstädte seit Ausbruch der Finanzkrise vor sechs Jahren ringen. Denn „Suburbia“, der in den 1950er-Jahren entstandene Inbegriff auf dem Reißbrett geschaffener Schlafstädte für die arbeitende Mittelschicht, in denen es viel Platz für Autos und riesige Einkaufszentren gibt, aber keine öffentlichen Verkehrsmittel und Geschäfte in Gehnähe, ist in einer schweren Krise. 16,5 Millionen der armen Amerikaner leben heute in Vorstädten, 13,5 Millionen in Städten: Die klassische Verteilung der Armut in der Nachkriegszeit hat sich im Lauf der 2000er-Jahre umgekehrt.


Mehr Arme, weniger Arbeit.
Elizabeth Kneebone von der Brookings Foundation in Washington untersucht die Misere der Vorstädte seit Jahren. Nach dem Tod von Michael Brown hat sie Ferguson unter die Lupe genommen. Ihr Befund ist ernüchternd: Seit dem Jahr 2000 hat sich die Armutsrate in Ferguson verdoppelt (arm ist eine vierköpfige Familie per Regierungsdefinition, wenn sie pro Jahr weniger als rund 23.500 Dollar zur Verfügung hat). Jeder vierte Einwohner ist heute arm – und zwar in fast allen fünf statistisch erfassten Vierteln der Stadt. Zu Beginn der 2000er-Jahre gab es hier zwar auch viele arme Menschen, aber nicht überall. Die Armutsraten lagen damals zwischen vier und 16 Prozent.

Gestiegen ist auch die Arbeitslosigkeit. Zu Beginn des Jahrtausends waren nur rund fünf Prozent der Bürger von Ferguson ohne Job. Heute sind es mehr als 13 Prozent. Und nicht nur die Armen, sondern alle Menschen in Ferguson sind heute im Vergleich zum Rest des Bundesstaates Missouri schlechter dran als damals: Das Medianeinkommen hier betrug im Jahr 2012 rund 37.500 Dollar, jenes von ganz Missouri 47.300 Dollar. Im Jahr 2000 war man noch gleichauf.

Einer dieser Armen ist David. Der 34-Jährige verheiratete Vater zweier Kinder mäht in einer Privatschule den Rasen. Damit verdient er rund 1600 Dollar pro Monat. „Die mögen mich dort, aber ich weiß nicht, ob ich die Stelle noch habe, wenn all das hier vorüber ist“, sagt David zur „Presse am Sonntag“, direkt neben Michael Browns Todesort. Denn seit damals ist er fast ununterbrochen auf der Straße, um für Frieden und Gerechtigkeit zu demonstrieren. „Canfield ist ein armes Viertel, aber es war friedlich, bevor Mike Brown erschossen wurde“, sagt er. „Wir müssen lernen, einander zu respektieren. Ich will nicht, dass die Polizei mich liebt. Aber sie soll mich respektieren.“

Davids persönliche Geschichte ist symptomatisch für die Probleme afroamerikanischer Männer auf dem Arbeitsmarkt: Der gelernte Elektriker aus Prince George's County in Maryland geriet als junger Mann in eine Schlägerei und wurde zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt. „Das war der größte Fehler meines Lebens, ich bereue ihn jeden Tag“, sagt er. Nach sechs Jahren und acht Monaten wurde er wegen guter Führung entlassen. Doch wer in Amerika eine Vorstrafe hat, ist auf dem Arbeitsmarkt chancenlos. „Ich habe in Prince George's County einen Eintrag. Die werden mir dort nie vergeben.“ Also zog er nach Arizona, um neu zu beginnen. Er kaufte ein Haus, doch die Immobilienkrise machte seine Hypothek unbezahlbar. „Also bin ich nach Missouri gezogen, weil es hieß, dass es hier Arbeit gibt. Ich wollte hier neu anfangen.“ Tatsächlich gibt es rund um St. Louis eine kräftige Industrie. Boeing hat hier ein großes Werk, es gibt viele Zulieferer. Doch als sich David um eine Stelle als Elektriker bewarb, hieß es, seine Berufserfahrung sei gut, er müsse aber seine gesamten High-School-Zeugnisse vorlegen. Die sind in Maryland verschollen; Ende der Geschichte.


Unpolitischer Zorn.
„Das hängt ganz stark mit den Schulen zusammen“, sagt Herc Harris, während er enorme Schweinerippen mit einem Beil zertrennt. „Wenn sie eine Schule zusperren, tun sie das nicht, um sie neu zu bauen. Sondern sie bleibt geschlossen. Die wollen, dass wir Schwarze Bürger zweiter Klasse bleiben.“ Der 50-jährige Harris führt das Barbecue-Lokal Red's BBQ, das ein paar Minuten Fußweg von Michael Browns Todesort entfernt ist. Er ist über das Bild arbeitsscheuer schwarzer Sozialschmarotzer, das viele Weiße im Kopf haben, sehr verärgert: „Die Steuerzahler hier in Ferguson zahlen ihre Abgaben. Aber wenn man in einer Sozialwohnung geboren wird, keinen anständigen Job bekommt und ständig von der Polizei belästigt wird, ist man irgendwann einfach nur müde.“

Das ist etwas, was man in diesen Tagen in Ferguson von vielen Menschen hört: Sie wollen keine sozialstaatlichen Almosen, sondern Respekt. „Ein Haufen Leute will nicht von Lebensmittelmarken und Mietbeihilfe leben, sondern von ihren Jobs“, sagt David. „Aber die Wahrheit ist: Wenn ich keine Lebensmittelmarken bekäme, müsste ich mir überlegen, ob ich etwas zu essen kaufe oder meine Rechnungen bezahle. Beides geht nicht.“

Der Zorn der Afroamerikaner richtet sich gegen das weiße Establishment in den politischen Gremien der Gemeinde, aber es ist bisher ein unpolitischer Zorn. Ferguson ist zwar zu zwei Dritteln schwarz, fünf der sechs Gemeinderäte, der Bürgermeister und der Polizeichef aber sind weiß. Die weißen Kaufleute und Handwerker sind in Bünden organisiert, die zu jeder Gemeinderatswahl Kandidaten nominieren und dafür sorgen, dass ihre Unterstützer eifrig wählen gehen. Im Gegenzug sorgen die weißen gewählten Stadtfunktionäre dafür, dass öffentliche Aufträge an Mitglieder der weißen Bünde gehen – natürlich unter Vermeidung des Anscheins rassistischer Diskriminierung, die verboten ist.

Die Schwarzen in der Stadt haben bisher keine vergleichbare politische Maschine konstruiert. Bei den jüngsten Wahlen im Vorjahr gingen zum Beispiel in jenem Wahlbezirk, in dem die meisten Afroamerikaner leben, gerade einmal zwei Prozent zu den Urnen.

Dieses politische Desinteresse trotz akuter politisch zu lösender Probleme liegt daran, dass die meisten Schwarzen in Ferguson Neuankömmlinge sind. 1990 war weniger als ein Viertel der Bürger hier schwarz. Heute sind es mehr als zwei Drittel. Denn Ferguson ist auch in der Hinsicht typisch für die amerikanischen Vorstädte, dass es seit den 1990er-Jahren zu einem Anziehungspunkt für Afroamerikaner wurde, die aus den heruntergekommenen Slums in den Städten wegwollten. Das Ergebnis war eine großflächige Zersiedelung, denn gleichzeitig zogen reiche weiße Familien in exklusive, abgezäunte Siedlungen im ländlichen Raum. Somit hat der Großraum St. Louis heute fast gleich viele Einwohner wie vor 40 Jahren – aber sie sind über eine riesige Fläche und 15 Verwaltungsbezirke verstreut, die bis an die Südgrenze des Bundesstaates Illinois reichen, während es damals nur vier Verwaltungsbezirke waren. Während St. Louis bei der letzten Volkszählung im Jahr 2010 rund 350.000 Einwohner hatte (acht Prozent weniger als zehn Jahre zuvor), ist St. Charles County außerhalb der Stadtgrenzen um 27 Prozent gewachsen und ist mit mehr als 360.000 Menschen größer als St. Louis.


85 Prozent ohne Väter. All das bedeutet, dass man ohne Auto kaum eine Chance hat, eine Stelle zu finden; der Großraum St. Louis ist ganz oben in der Statistik der längsten täglichen Arbeitswege. Und es bedeutet auch, dass Sozialleistungen, Schulen und Hilfe bei der Suche nach Arbeit selbst dann mit viel mehr Aufwand und Kosten verbunden wären, wenn eine weiße politische Klasse ein Interesse daran hätte, die schwarze Armut zu lindern.

Diese Unterstützung hätten viele junge schwarze Männer jedoch nötig, erklärt der Sozialhelfer Jahad Khayyam von der Organisation Better Family Life: „Viele wissen nicht, was es heißt, eine Arbeitskraft im 21. Jahrhundert zu sein. Das beginnt bei der Pünktlichkeit, bei der Konfliktlösung und damit, wie man sich anzieht.“

Von ihren Vätern lernen die jungen Schwarzen von Ferguson diese Tugenden nicht, sagt Khayyam, während auf der anderen Straßenseite eine Gruppe junger Männer Haschisch raucht: „85 Prozent der Haushalte hier werden von alleinerziehenden Müttern geführt. Unsere Familien sind kaputt.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.08.2014)

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