„Putin ist von Verzweiflung getrieben“

ITAR TASS TVER REGION RUSSIA AUGUST 28 2014 Russian president Vladimir Putin during a meeting w
ITAR TASS TVER REGION RUSSIA AUGUST 28 2014 Russian president Vladimir Putin during a meeting w(c) imago/ITAR-TASS (imago stock&people)
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Die russische Politologin Lilija Schewzowa sieht den Kreml-Herrscher in einer „Logik des Bobfahrens“ gefangen: Die Talfahrt habe begonnen, Putin könne nicht mehr aussteigen.

Die Presse: Es gibt da diesen Cartoon, wo man einen Lkw-Fahrer sieht, der sagt: „Ich bin von der neuen NGO ,Russen ohne Grenzen‘.“ Wie kann es sein, dass im 21. Jahrhundert in Europa wieder Grenzen verändert werden?

Lilija Schewzowa: Wenn Sie diese Frage Anfang 2013 gestellt hätten, hätte ich gesagt: Das ist vermutlich unmöglich. Dass Russland und sein Regime in diese Richtung gehen würden, konnten wir nicht voraussehen. Wir haben weder den Grad an Entmoralisierung der russischen Gesellschaft verstanden, die gestattet, dass das passiert, noch den Grad an Entmoralisierung der russischen Elite, die zum Schoßhund auf den Knien des Kremls wurde, und drittens auch nicht die Verzweiflung des russischen Präsidenten, der die ganze Post-Kalter-Krieg-Ordnung bricht und Europas Stabilität ruiniert.

Aber was will Putin erreichen?

Er ist zutiefst besorgt über den Maidan. Der Krieg in der Ukraine kann zunächst einmal damit erklärt werden: Einen Maidan darf es in Russland nicht geben. Gleichzeitig geht es um mehr, denn in der Ukraine stellt sich Putin dem Westen entgegen, sie ist Testgelände.

Musste Putin denn gleich eine Invasion machen, um einen Maidan in Russland zu verhindern?

Offensichtlich haben die Spin-Doktoren des Kreml entschieden, dass die Krim eine einfache, lösbare Aufgabe sei, noch dazu unblutig, und die Bewohner der Krim bereit seien, in die „russische Umarmung“ zurückzukehren. Der Westen hat sich ruhig verhalten und abgewendet, und die Ukraine hat beschlossen, die Truppen abzuziehen, um Putin nicht zu provozieren. Und dann hat die Annexion der Krim Putin auch noch hochschießende Popularitätswerte von unglaublichen 85 Prozent beschert. Es war ein Sieg für ihn. Das Problem: Wenn du einmal diesen Schritt machst, wirst du zu einer Art Bobfahrer. Du sitzt im Bob, sie geben dir einen Schubs, aber du kannst nicht mehr aussteigen. Es ist die Logik des Bobfahrens, du wirst zu ihrer Geisel.

Wo wird Putin aufhören? Was kommt nach der Ostukraine?

Das kann man nicht voraussagen, weil hier eine Logik der Verzweiflung am Werk ist. Es handelt sich bei Russland um ein Land im Niedergang. Putin ist in der Agonie seines Regimes, aber eine Agonie kann lange dauern. Meine Vermutung ist allerdings, da er von der Verzweiflung getrieben ist, wird er nicht so leicht aufhören können. Den Krieg zu beenden, wäre ja für ihn eine Niederlage. Also muss er weitermachen. Und der Westen sieht mehr oder weniger ruhig zu und lässt ihn gewähren, dadurch fühlt sich Putin noch gestärkt.

Es sieht aus, als hätte die EU schon alles getan, was sie konnte. Putins Exberater Illarionov sagte, Putin verstehe nur die Sprache der Gewalt. Aber kann oder soll der Westen diese Sprache sprechen?

Die bisherigen Sanktionen von EU und USA sind zwar ziemlich ernsthaft, aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt bewirken sie noch nicht recht viel. Das dürfte erst im kommenden Frühjahr der Fall sein. Zum heutigen Tag ist der Preis eines Nachgebens für Putin viel höher als der Preis der Sanktionen. Sogar Sanktionen einer vierten Stufe würden wohl eine Zeit brauchen, um zu wirken, und bis dahin würde Putin wohl so weit gehen wie möglich. Viel hängt jetzt von Obama ab.

Und was könnte der tun?

Vor allem zwei Dinge: eine weitere Runde von Sanktionen verhängen. Er könnte aber auch der Ukraine helfen, ihre Verteidigung aufzubauen, worum Kiew ja seit geraumer Zeit erfolglos bittet. Die Ukrainer haben den USA eine lange Liste von „nicht tödlichen“ Rüstungsgütern gegeben, etwa Schutzkleidung. Aber sie haben nichts bekommen – außer Fertiggerichten. Aber was der Westen auch tut, es wird Putin nicht kurzfristig beeinflussen. Was ihn beeinflussen könnte, ist eine Krise in Russland, die im nächsten Jahr kommen könnte, durch wirtschaftliche Probleme, durch die Sanktionen, und durch einen Riss in der Elite. Doch bisher ist diese Elite wie ein Monolith, und das Volk verhält sich ruhig.


Im Westen ist man vielleicht zu sehr auf Putin fixiert. Könnte er durch Leute aus dem inneren Machtzirkel in Gefahr kommen?

Es gibt Leute in der russischen Elite, die sind besorgt, wohin Putin Russland führt. Aber bisher hat niemand öffentlich seine Stimme erhoben. Brüche werden erst sichtbar, wenn sich die Bevölkerung erhebt, wenn sie auf die Straße geht, und zwar nicht zehntausend Menschen, sondern eine halbe Million. Aber wir wissen nicht genau, was in diesen schummrigen Kreml-Korridoren vor sich geht. Der Kreml ist der Ort für Intrigen und Staatsstreiche, und Putin selbst scheint manchmal nicht zu wissen, was ihn hinter der nächsten Ecke erwartet. Es ist etwa eine russische Tradition, Besuchern Brot und Salz anzubieten. Putin wies das bei seinem Besuch in Minsk zurück. Der ukrainische Präsident Poroschenko nahm es, er nicht. Er hat vor allem Angst.

Wie beurteilen Sie Österreichs Haltung in dem Konflikt?

Österreich gehört zu den Staaten, die ein wirtschaftliches Interesse haben, den Kreml zufriedenzustellen und Russland als befreundeten Staat zu haben. Wie Spanien und Italien wird Österreich es der EU schwer machen, eine einheitliche Position gegenüber Russland zu formulieren. Das ist schade.

ZUR PERSON

Lilija Fjodorowna Schewzowa (*1951 in Lemberg, damals Sowjetunion, heute Ukraine) ist eine russische Politikwissenschaftlerin. Sie forscht derzeit bei der US-amerikanischen Carnegie-Stiftung und beschäftigt sich vor allem mit den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Sie nahm dieser Tage in Salzburg an der Konferenz „1814, 1914, 2014“ teil, veranstaltet vom International Peace Institute und dem Salzburg Global Seminar.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.08.2014)

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