Ukraine: Putins Vision von Neurussland

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Die Pläne des russischen Präsidenten, in der Ostukraine einen neuen Staat zu erzwingen, sind Drohkulisse. Versagt die Diplomatie, könnten sie aber umgesetzt werden.

Wien. Bis vor Kurzem war Neurussland nur ein Begriff, den die Separatisten von Donezk und Luhansk verwendeten, um sich größer zu machen, als sie es eigentlich waren. Neurussland, das macht was her, das klingt nach Größe und nach Aufbruch, das gebietet Ehrfurcht. Doch auf ostukrainischem Boden geschah das genaue Gegenteil: Das Territorium, das die von Russland unterstützten Kämpfer kontrollierten, verkleinerte sich angesichts der Offensive der ukrainischen Armee zusehends. Bald bestand es nur aus zwei umzingelten Städten – Donezk und Luhansk – sowie einigen Quadratkilometern dazwischen. Die einst erträumte Volksrepublik Neurussland, die den gesamten Donbass und mehr umfassen sollte, erschien als verrückter Wunschtraum der Kämpfer, der wohl nie verwirklicht werden würde.

Doch es kam anders – und das innerhalb einer Woche. Die ukrainische Armee befindet sich seit Tagen in der Defensive, vor allem seit aus Russland kommende Truppenverbände eine neue Front im Süden eröffnet haben: Die Verbände stießen bis zum Städtchen Nowoasowsk hinter der russisch-ukrainischen Grenze vor. Die Lagekarten der ukrainischen Armee, die diese tagtäglich veröffentlicht, illustrieren, dass das Militär Territorium verliert: Bei Luhansk war es der strategisch wichtige Flughafen, auch rund um Donezk scheinen die Separatisten den ukrainischen Belagerungsring immer mehr zu durchlöchern.

Vom Donbass bis nach Transnistrien?

Entscheidend wird vor allem sein, was im Süden nun passiert. Setzen prorussische Verbände zum Sturm auf Mariupol vor, hätten sie nicht nur eine dritte Industriemetropole im Donbass gekapert, sondern mit Hafen und Schwerindustrie auch strategisch wichtige Infrastruktur erbeutet. Fällt Mariupol, in dem der vertriebene Gouverneur von Donezk, Sergej Taruta, derzeit residiert, dann scheinen auch weitere Schritte nicht mehr unmöglich: ein Landkorridor zur Krim etwa, die Entfachung einer prorussischen Abspaltungsbewegung in den Städten des ukrainischen Südens wie Melitopol, Cherson, Mykolaiw und Odessa –, oder auch die Landnahme der gesamten Südukraine bis ins ebenfalls Russland-loyale Transnistrien.

Neurussland scheint nicht länger nur dem Größenwahn der prorussischen Separatisten zu entspringen, nicht zuletzt, da es Russlands Präsident Wladimir Putin selbst war, der den Begriff erneut in die Debatte eingeführt hat. Neurussland ist die Drohkulisse, mit der Putin Kiew zu direkten Gesprächen mit den Abspaltern des Donbass und zum Einlenken in dem Konflikt bewegen will. Am Montag fanden seit längerer Zeit wieder Verhandlungen der sogenannten Kontaktgruppe in Minsk statt, bei denen die Separatisten, angeführt von Andrei Purgin, ein Positionspapier mit neun Punkten präsentierten: Sie fordern unter anderem ein Ende des ukrainischen Militäreinsatzes, einen Waffenstillstand und die Freilassung aller Gefangenen. Und sie fordern einen Staat Neurussland. Am Freitag könnten die Gespräche in der weißrussischen Hauptstadt fortgesetzt werden.

Gibt sich Kiew nicht kompromissbereit oder scheitert das Format gar, dann könnte im Kreml der nächste Schritt zur Verwirklichung des Separatistenstaates umgesetzt werden. Noch offen scheint einerseits die Frage nach der Größe des russischen Einflussbereiches (manche zählen gar die für die Separatisten unerreichbaren Städte Charkiw und Dnipropetrowsk zu diesem Gebiet), andererseits auch sein Status: Geht es um Eigenstaatlichkeit (also Abspaltung und Existenz als international nicht anerkannter Staat – Beispiel Abchasien, Südossetien, Transnistrien), um Autonomie oder nur um eine weitreichende Föderalisierung?

Von der Zarin eroberte Steppengebiete

Wladimir Putin ließ in seiner Fernseh-Sprechstunde im April erstmals mit dem Begriff Neurussland aufhorchen. Es ist ein in Russland gebräuchlicher historischer Begriff, der sich im 18. Jahrhundert auf von den Osmanen eroberte Territorien bezieht. In den Steppengebieten Neurusslands ließ Katharina die Große russische und ukrainische Bauern ansiedeln. Noch heute ist ihr in der Hafenstadt Odessa an prominenter Stelle ein Denkmal gewidmet. Doch die behauptete russische Kontinuität ist nicht richtig. Immerhin wurden die Territorien in den 1920er-Jahren der Sowjet-Ukraine zugesprochen. Nur „Gott allein“ wisse, warum dies so passiert sei, sagte Putin im April. Vermutlich weiß einzig der russische Präsident, ob dieser Schritt revidiert werden soll.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.09.2014)

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