EU/ Ukraine: Ausbruchsversuch aus Moskaus Orbit

Ukraine´s President Poroshenko clasps hands with Prime Minister Yatseniuk after a ratification of a landmark association agreement with the European Union during a parliament session in Kiev
Ukraine´s President Poroshenko clasps hands with Prime Minister Yatseniuk after a ratification of a landmark association agreement with the European Union during a parliament session in Kiev(c) REUTERS (VALENTYN OGIRENKO)
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Europaparlament und Rada haben das Assoziierungsabkommen ratifiziert, wichtige Aspekte des Pakts bleiben aber bis Ende 2015 ausgesetzt – was Russland in die Hände spielt.

Brüssel/Straßburg. 2135 Seiten – so umfangreich ist das Assoziierungs- und Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Ukraine, das am gestrigen Dienstag vom Europaparlament in Straßburg und von der Werchowna Rada in Kiew ratifiziert wurde. Wie viele der Abgeordneten den in 15Kapitel, 14 Annexe und drei Zusatzprotokolle gegliederten Text von vorne bis hinten durchgelesen haben, ist nicht klar – vermutlich hält sich ihre Zahl in engen Grenzen.

Daran, dass die Parlamentarier die Quintessenz des Abkommens verinnerlicht haben, gibt es indes keine Zweifel. Im Kern des Pakts geht es nämlich nicht um Herkunftsbezeichnungen von Parmesan, Feta und Cognac oder um den Abbau von Zollschranken, der in diversen Anhängen tabellarisch aufgelistet ist, sondern um die Heranführung der ehemaligen Sowjetrepublik an europäische Normen, Standards und Werte – aber auch um ein „Versprechen an die Freiheitskämpfer des Maidan“, das mit der Ratifizierung erfüllt worden sei, wie der ÖVP-Europaabgeordnete Othmar Karas gestern formulierte. Gänzlich erfüllt ist dieses Versprechen allerdings nicht, denn damit das Abkommen auch in Kraft tritt, muss es noch von allen 28 EU-Mitgliedern bewilligt werden.

Annexion als Antwort

Die Anspielung auf die Demonstranten vom Kiewer Unabhängigkeitsplatz kommt nicht von ungefähr, war doch die Ablehnung des über Jahre verhandelten Abkommens durch den damaligen Staatschef Viktor Janukowitsch im November 2013 (siehe Chronologie) der Auslöser der Proteste, die im Februar 2014 in Straßenkämpfen und der Flucht Janukowitschs kulminierten – und in der Folge Russland auf den Plan riefen. Die Annexion der Krim und die Intervention in der Ostukraine waren die Antworten der russischen Führung auf die Annäherung der Ukraine an den Westen. Denn Moskau hatte sich zuvor darum bemüht, Kiew die Mitgliedschaft in der Eurasischen Union schmackhaft zu machen. Der blutige Konflikt um die Ostukraine lässt diese Aussicht vollkommen irreal erscheinen – nicht zuletzt, weil Moskau wiederholt klargestellt hatte, dass die Ukraine nicht den beiden Handelsblöcken zugleich angehören könne. Für den Präsidenten in Kiew, Petro Poroschenko, gibt es ohnehin nur eine Fahrtrichtung: Die Ukraine werde sich bis 2020 mit Reformen fit für die EU-Mitgliedschaft machen, kündigte er an.

Doch bevor es so weit kommt, muss das Assoziierungsabkommen erst einmal verdaut werden. Das wird allerdings dauern, denn die wirtschaftlichen Elemente des Abkommens bleiben bis Ende 2015 ausgesetzt – darauf hatten sich die EU, die Ukraine und Russland am vergangenen Freitag geeinigt. Soll heißen: Die ukrainischen Firmen werden ihre Produkte zwar nach wie vor zollfrei nach Westen exportieren dürfen (dieses Privileg hat die EU der Ukraine bereits im Frühjahr zugestanden), doch der Anpassungsprozess an die europäischen Normen und Vorschriften bleibt vorerst aufgeschoben. Der politische Teil des Abkommens, der unter anderem den Ukrainern die visafreie Einreise in die EU in Aussicht stellt, bleibt vom Aufschub ausgenommen.

Was als harmlose Verzögerung erscheint, könnte sich als Problem erweisen. Denn erklärtes Ziel des Abkommens ist die „schrittweise ökonomische und politische Integration“ der Ukraine in EU-Strukturen, wie es in der Präambel heißt. Um dieses Ziel zu erreichen, seien „politische, sozioökonomische, rechtliche und institutionelle Reformen“ nötig. Der Aufschub schwächt diesen Reformdruck ab, was Russland in die Hände spielt. Medienberichten zufolge hat die russische Regierung mehr als 2000 Änderungswünsche nach Brüssel übermittelt – mit der Begründung, das Abkommen müsse die Verflechtung zwischen Russland und der Ukraine berücksichtigen. Das undeklarierte Ziel scheint aber zu sein, das Abkommen derart zu durchlöchern, dass die Ukraine nicht an die rechtlichen und wirtschaftlichen Standards der EU herangeführt werden kann und folglich ein Satellit Moskaus bleibt.

Dass der Ausbruchsversuch aus dem Moskauer Orbit damit erschwert wird, nimmt man in den EU-Hauptstädten offenbar in Kauf. Nachdem die Union vergangene Woche ihre sektoralen Sanktionen gegen die russische Wirtschaft verschärft hatte (als Antwort auf das Eingreifen regulärer russischer Truppen in den Konflikt), soll mit der Rücksichtnahme auf ökonomische Interessen Russlands Gesprächsbereitschaft signalisiert werden. Ob das Signal in Moskau ankommt, bleibt abzuwarten.

CHRONOLOGIE

2009. Im Rahmen der Ostpartnerschaft sollen sechs ehemalige Sowjetrepubliken – darunter die Ukraine – an die EU herangeführt werden. Bereits zwei Jahre zuvor hatten Kiew und Brüssel mit Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen begonnen.

Dezember 2011. Das fertig ausverhandelte Abkommen wird paraphiert. Die Unterzeichnung ist für Ende 2013 anvisiert – bis dahin soll die Ukraine den Rechtsstaat reformieren.

21. November 2013. Auf Druck Russlands suspendiert Staatschef Viktor Janukowitsch die Unterzeichnung. Die Entscheidung löst eine Protestwelle in der Ukraine aus.

22. Februar 2014. Nach Ausschreitungen mit zahlreichen Todesopfern verlässt Janukowitsch fluchtartig Kiew. Das Parlament erklärt ihn für abgesetzt.

21. März. Russland annektiert die Krim. Am selben Tag unterzeichnen die Ukraine und die EU den politischen Teil des Assoziierungsabkommens.

27. Juni. Der Rest des Abkommens wird unterzeichnet.

30. Juli. Nach dem Abschuss eines Passagierjets über der Ostukraine (mutmaßlich mit einer russischen Rakete) verhängt die EU sektorale Sanktionen gegen Russland.

16. September. Das Abkommen wird vom EU-Parlament ratifiziert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.09.2014)

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