Schottland: Der separatistische Geist ist geweckt

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Rund ums Referendum in Schottland treten auch Ansprüche anderer Regionen zutage: von Nordirland über Wales bis hin zu Eigenständigkeitsideen der Stadt London.

London/Edinburgh. Am Ende des Tages war alles gesagt und getan. Zwei Jahre nach der Einigung auf eine Volksabstimmung entschieden die Schotten gestern, Donnerstag, über die Unabhängigkeit. In zahllosen Papieren, Diskussionen und Veranstaltungen wurden alle Argumente bis zum Gehtnichtmehr erörtert. „Auf jede Frage wurden zwei Antworten gegeben“, brachte der Historiker Neil Oliver die Kontroverse treffend auf den Punkt. Nach der Massenmobilisierung fielen die Würfel am Ende in der Einsamkeit der Wahlkabine – mit einer historischen Tragweite nicht nur für Schottland.

Denn mit der Debatte um die Unabhängigkeit Schottlands traten auch lang verdrängte Ansprüche anderer Regionen zutage. Die Versprechungen der führenden britischen Parteien gegenüber den Schotten, ihnen bei einem Verbleib in der Union noch weitere Autonomierechte zu gewähren, blieb nicht ohne Widerspruch. Der konservative Abgeordnete John Redwood forderte, dass im Gegenzug „nur englische Abgeordnete über englische Angelegenheiten entscheiden“ sollten.

Missverhältnis im Parlament

Tatsächlich besteht in der Zusammensetzung des britischen Unterhauses in London ein offenkundiges Missverhältnis, das bis zur Debatte über die schottische Unabhängigkeit ein Tabu war. Der schottische Labour-Abgeordnete Tam Delyell stellte 1977 im Parlament die Frage „Warum darf ich als schottischer Abgeordneter über englische Themen abstimmen?“, die nach seinem Wahlkreis als „West Lothian Question“ in die britische Politikwissenschaft Eingang fand, lange aber nicht in die praktische Politik.

Stattdessen erhielten Schottland und Wales als konstituierende Teile des Vereinigten Königreichs nach dem Wahlsieg von New Labour 1997 eigene Parlamente, regionale Regierungen und einen Teil der bisher von London gehaltenen Befugnisse. Die Konservativen waren traditionell gegen die Stärkung dieser Rechte. Mit ihrem vollen Namen heißt die Partei „Conservative and Unionist Party“, und „das Bekenntnis zu einem einheitlichen Großbritannien ist ein zentrales Element ihrer Identität“, wie der Politikwissenschaftler Michael Kenny der „Presse“ sagt.

Nordirland als vierte Nation des Vereinigten Königreichs erhielt ebenfalls in den späten 1990er-Jahren nach Abschluss des Karfreitagsabkommens 1998 sein eigenes Parlament und eine Exekutive, die von Vertretern der führenden Nationalisten und Unionisten paritätisch gebildet wird. Ohne protestantische schottische Siedler im Norden Irlands, die sich als Speerspitze der Union verstanden, hätte es die „Troubles“ auf der mehrheitlich katholischen Insel möglicherweise nie gegeben. Von dem Neuerwachen des schottischen Nationalismus dieser Tage hielten beide Seiten betonte Distanz.

Vor diesem Hintergrund erklärte Redwood diese Woche: „Ich habe es satt. Schottland bekommt eine Autonomie erster Klasse, Wales zweiter Klasse und England bekommt nichts.“

London als eigener Stadtstaat?

Tatsächlich ist selbst England lange nicht so homogen, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Die Bevölkerung der südenglischen Grafschaft Cornwall erhielt erst im April den Status einer nationalen Minderheit zuerkannt, und Yorkshire im Norden des Landes kann nicht nur auf eine durchgehende Geschichte seit der Zeit der Kelten verweisen, sondern hat mit 5,2 Millionen Einwohnern praktisch genauso viele Einwohner wie Schottland. Da kann London nicht nachstehen. Der Bürgermeister der Metropole, Boris Johnson, spielte öffentlich bereits damit, den Status eines Stadtstaates auszurufen und will ernsthaft Steuerhoheit für London. Mit 8,5 Millionen Einwohnern (15 Millionen bei Hinzuzählung des näheren Umlands) ist London zweifellos der dominierende Faktor in Großbritannien. Ohne Schottland wird dieses Ungleichgewicht noch größer werden. Doch vielleicht nicht für immer: Nach Umfrage des „Evening Standard“ würde ein Viertel der Londoner selbst für die Unabhängigkeit stimmen.

„Die einzige Garantie dafür, dass wir alle unsere Rechte bekommen, ist die Unabhängigkeit“, tönte Schottlands First Minister, Alex Salmond, in seiner Abschlusskundgebung Mittwochabend in Perth. Auch andere könnten sich dieses Motto bald zu eigen machen.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.09.2014)

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