Syrien: Massenflucht der Kurden

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Etwas 130.000 Menschen bringen sich vor IS-Angriff in der Türkei in Sicherheit.

Istanbul. Der Gefechtslärm ist auf der türkischen Seite der Grenze zu hören: Mit Panzern und Artillerie rückt die Jihadisten-Miliz Islamischer Staat (IS) im Norden Syriens weiter gegen Siedlungsgebiete der Kurden vor – und treibt eine immer größer werdende Flüchtlingswelle vor sich her. Mehr als 130.000 Menschen flohen zwischen Freitag und Montag in die benachbarte Türkei, wie der türkische Vizepremier, Numan Kurtulmuş, mitteilte. Die türkischen Behörden schlossen angesichts des Ansturms am Montag vorübergehend die Grenze. Doch die große Zahl der Flüchtlinge ist nicht das einzige Problem für Ankara: Die türkische Regierung sieht sich neuen Vorwürfen ausgesetzt, sie kooperiere heimlich mit dem IS.

PKK ruft Mobilmachung aus

Die türkisch-kurdische Rebellengruppe PKK rief alle Kurden zur Mobilmachung gegen den IS im Norden Syriens auf. Dort hat die PKK-Schwesterpartei PYD eine kurdische Autonomie aufgebaut (siehe nebenstehendes Interview mit PYD-Vorsitzendem Salih Muslim). Der türkischen Regierung werfen die Kurden vor, den IS zu unterstützen, weil Ankara keine kurdische Autonomie wolle, die von einer PKK-nahen Kraft geleitet wird.

Demonstranten in Istanbul und der kurdischen Stadt Diyarbakir im Südosten der Türkei klagten über eine Zusammenarbeit zwischen der türkischen Regierungspartei AKP und den Extremisten: „Mörder IS, Kollaborateur AKP“, stand auf einem Transparent.

IS stößt an die Grenze vor

Das UN-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR sprach angesichts der neuen IS-Offensive von einer Fluchtbewegung in bisher unbekannter Dimension: Die Türkei hat allein seit Freitag mehr Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen als ganz Europa in drei Jahren Bürgerkrieg: Den 130.000 neuen Flüchtlingen an der türkisch-syrischen Grenze stehen laut UNHCR 124.000 syrische Flüchtlinge in Europa gegenüber. Insgesamt halten sich 1,5 Millionen Syrer in der Türkei auf. In einigen Städten stellen sie inzwischen ein Drittel der Bevölkerung.

Und weitere Flüchtlinge sind offenbar auf dem Weg. So stehen die IS-Verbände in einigen Teilen des Kampfgebietes nur noch einige hundert Meter von der türkischen Grenze entfernt. Die Extremisten wollen die Grenzstadt Kobane und zwei weitere bisher kurdisch beherrschte Gebiete an der Grenze einnehmen. Mitunter gehen Geschosse des IS auf türkischem Territorium nieder.

Laut Medienberichten könnten die Kämpfe in der Nähe von Kobane bis zu 500.000 weitere Kurden zu Flüchtlingen machen. Auch westlich von Kobane überqueren Menschen in panischer Angst vor den IS-Extremisten die Grenze. Bei Birecik sollen in der Nacht mehrere tausend syrische Kurden in die Türkei gekommen sein.

Viele Flüchtlinge finden bei Verwandten oder Bekannten in der Türkei eine neue Bleibe. Andere machen sich sofort auf den Weg Richtung Westen. Busunternehmer berichteten von einem Ansturm auf die Überlandbusse Richtung Istanbul oder Ankara. Für tausende weitere Syrer werden neue Zeltlager aus dem Boden gestampft oder bestehende Gebäude wie Moscheen oder Kulturzentren zu Auffangzentren umfunktioniert. Selbst die sogenannten Hochzeitssäle, die normalerweise für große Vermählungsfeiern vermietet werden, füllen sich mit Flüchtlingen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.09.2014)

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