Islamisierung: Erdogan will eine "fromme Jugend"

Turkey´s new President Tayyip Erdogan and outgoing President Abdullah Gul, attend a handover ceremony at the Presidential Palace of Cankaya in Ankara
Turkey´s new President Tayyip Erdogan and outgoing President Abdullah Gul, attend a handover ceremony at the Presidential Palace of Cankaya in Ankara(c) REUTERS (UMIT BEKTAS)
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In der Türkei geht die Islamisierung immer offener vor sich. Präsident Erdoğans Regierung hat per Dekret sogar Tattoos bei Schülern verboten und will Urteile des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs ignorieren.

Ankara. Als Recep Tayyip Erdoğan im Sommer ein Trainingslager der türkischen Fußballnationalmannschaft besuchte und Hände schüttelte, hielt er bei dem 18-jährigen Jungprofi Berk Yildiz plötzlich inne. „Was sollen denn die Tattoos?“, fragte er Yildiz, dessen rechter Arm stark tätowiert ist. Dass sich Yildiz aus freien Stücken für die Tattoos entschieden haben könnte, mochte Erdoğan, damals Premier, nicht glauben. „Lass dich nicht von den Ausländern reinlegen“, sagte er. „Das kann dir, Gott behüte, sogar Hautkrebs einbringen.“

Tattoos sind für den nunmehrigen türkischen Präsidenten Ausdruck einer westlich-dekadenten Kultur, die er in seinem Land nicht sehen will. Insbesondere in den Großstädten sind Tattoos bei jungen Türken allerdings ebenso beliebt wie im Westen. Die islamisch-konservative Regierung in Ankara verbot deshalb jetzt per Dekret allen Schülern, mit Tattoos, Piercings oder gefärbten Haaren im Unterricht zu erscheinen. Gleichzeitig wird es schon zehnjährigen Mädchen erlaubt, im Unterricht das islamische Kopftuch zu tragen.

Das Kopftuch war in öffentlichen Institutionen der Türkei lang verboten, obwohl zwei von drei Türkinnen ihr Haar verhüllen. Erdoğan hatte in den vergangenen Jahren die Kopftuchverbote an Unis, im Parlament und in den Gerichten abgeschafft, was von seinen Fans begeistert aufgenommen wurde. Erdoğan und Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu betonen aber, dass sie lediglich Chancengleichheit herstellen wollten. Niemand werde zum Kopftuch gezwungen.

Gegner des islamisch-konservativen Staatsschefs schlagen dennoch Alarm. Sie erinnern sich nur zu gut daran, dass Erdoğan vor zwei Jahren das Ziel verkündet hat, eine „fromme Jugend“ zu formen. „Soll die Jugend etwa drogenabhängig sein? Wollen sie, dass diese Jugend gegen die Erwachsenen aufbegehrt?“, fragte er damals seine Kritiker. Es sei möglich, fromm und gleichzeitig modern zu sein.

„Infiltration“ der Köpfe

Nun rücke die „fromme Jugend“ näher, sagen Gegner der Regierung nach der jüngsten Kopftuchentscheidung. Die Oppositionspartei CHP sprach von Angriff auf die Basis der säkularen Republik. Schon fordern eine islamistische Lehrergewerkschaft und die religiöse Presse das Verbot gemischtgeschlechtlicher Schulklassen. Laut CHP mischt Präsidentensohn Bilal Erdoğan bei diesen Bestrebungen kräftig mit; der Regierung wird auch vorgeworfen, die Rolle religiöser Oberschulen zu fördern.

Tatsächlich betont der Präsident die Bedeutung des islamischen Religionsunterrichts in staatlichen Schulen. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg hat die Türkei kürzlich aufgefordert, das Pflichtfach Religion abzuschaffen und Schülern die Möglichkeit zu geben, sich davon befreien zu lassen. Doch Erdoğan sagte am Montag, das Urteil sei „falsch“ und würde bei Umsetzung den Drogenkonsum ansteigen lassen. Premier Davutoğlu betonte kürzlich, selbst Atheisten brauchten religiöse Grundkenntnisse.

Ob die Bemühungen um eine „fromme Jugend“ Erfolg haben werden, ist nicht sicher. So unterstrich der ob seiner Tattoos gerüffelte Fußballer Yildiz nach seiner Begegnung mit Erdoğan, er denke nicht daran, sich die Tattoos entfernen zu lassen. Jeder solle nach seiner Fasson glücklich werden. (güs)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.09.2014)

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