Nahe der Grenze wehen schon die schwarzen IS-Fahnen

Mittlerweile allgegenwärtig in Syrien: Die schwarze Fahne des IS (Archivbild)
Mittlerweile allgegenwärtig in Syrien: Die schwarze Fahne des IS (Archivbild)(c) REUTERS (STRINGER)
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Wie die Terrormilizen des IS der Türkei auf den Pelz rücken. Ein Lokalaugenschein von "Presse"-Reporterin Duygu Özkan.

Über die Ironie dieser Tage kann Abdullah sogar lachen. Bis vor einigen Wochen hatte er im Irak ausgeharrt, wo er ein Lebensmittelgeschäft betrieben habe, erzählt der Mittfünfziger mit grauen Haaren und grauer Krawatte. Jetzt kellnert er in einem Lokal in Şanliurfa an der türkisch-syrischen Grenze und versucht sich zu orientieren, wie er sagt.

Er floh vor den Terrormilizen des Islamischen Staates (IS), und jetzt sind dieselben Schergen in Syrien, vor den Toren der Türkei. Seit Wochen kämpfen die Islamisten nahe der Grenze mit Kurden, keine 40 Kilometer von Şanliurfa entfernt. „Hätte ich gleich dort bleiben können“, scherzt Abdullah. Zum IS fällt dem Kurden nur eines ein: „Ausrotten!“ Der IS ist ein „heißes Eisen“ in der 500.000-Einwohner-Stadt, dem antiken Edessa, wo Kurden, Türken und Araber wohnen und jeder sein Bild von den Terroristen hat. Für die einen ist IS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi ein als Islamist getarnter Jude namens „Simon Elliott“ und sein Kampf eine Erfindung des Mossad. Für die anderen ist er ein Ungeheuer, ein „vahşi“. Während die einen vor dem IS flohen, sind die anderen im Namen des IS hier tätig: Dass die Islamisten in Şanliurfa und überall im Land „Schläfer“ haben, ist ein offenes Geheimnis. Das erzählt man sich in dem Lokal, wo Abdullah gebratene Leber serviert.

IS-Logos schon in Istanbul

„Warum sonst hält sich Erdoğan so zurück, wenn er nicht mit den Islamisten unter einer Decke steckt?“, fragt ein junger Mann im Holzfällerhemd in die Runde am Tisch und erntet zustimmendes Murmeln. Tatsächlich hat sich der türkische Präsident bis zuletzt nicht in die Karten blicken lassen. Nachdem die Islamisten im Irak im Sommer 49 Türken als Geiseln genommen hatten, war Ankara den Terroristen gegenüber vorsichtig. Vorige Woche kamen die Geiseln frei, die Türkei hat keinen Grund mehr für Samthandschuhe, sagt man hier. Denn die Lage ist ernst: In Istanbul wurden Männer fotografiert, die T-Shirts mit IS-Logo trugen. Die Terroristen halten Versammlungen ab. Ankara muss sich viel vorwerfen lassen: Öl, das der IS erbeutet, wird über Pipelines und Lkw an und über die Türkei verkauft; IS-Mitglieder werden in der Türkei medizinisch versorgt, in Şanliurfa sollen sie ein Spital betreiben; sie haben angeblich Waffenlager im Land und sollen mit Geschützen ungehindert die Grenze passieren können; tausende werden hier rekrutiert und warten auf Befehle; ein Ziel des IS ist die Eroberung Istanbuls.

Erdoğan hatte auf die Berichte stets eine Antwort: „Stimmt nicht.“ Den IS nannte er erst kürzlich Terrorbande, und dass die Jihadisten der Türkei nun gefährlich nahe sind, bringt die Regierung in die Bredouille. Erdoğan hat seine Rhetorik verschärft und Truppen an der Grenze aufmarschieren lassen. Übrigens hatte al-Baghdadi Erdoğan mit dem Tod gedroht: Weil er ein Laizist sei.

„Laxe Haltung stärkte Terroristen“

„Für Aktionen ist es zu spät“, sagt der Mann im Holzfällerhemd. Er und seine Freundin hätten einst die Regierungspartei AKP gewählt, weil sie an eine moderne Türkei geglaubt hatten; „heute würde ich Erdoğan nicht mal Brot abkaufen“, sagt er. Wie die Opposition ist auch er überzeugt, dass die laxe Haltung der AKP den IS gestärkt habe. Und das, weil der IS und Ankara Syriens Herrscher Bashar al-Assad stürzen wollten, sagt Abdullah. „Aber um welchen Preis?“ Die nächsten Tage seien ein Wegweiser: 40 Kilometer von hier, in den kurdischen Dörfern nahe der Grenze, wehen bereits die schwarzen Fahnen des Islamischen Staats.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.10.2014)

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