"Können den Ukrainern die Entscheidung nicht abnehmen"

Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko, Sachsens Ex-Ministerpräsident Georg Milbradt und Österreichs ehemaliger Kanzler Wolfgang Schüssel
Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko, Sachsens Ex-Ministerpräsident Georg Milbradt und Österreichs ehemaliger Kanzler Wolfgang Schüssel
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Wie kann das Land dezentralisiert werden, ohne seine Integrität zu gefährden? Tenor: Egal, was vereinbart wird, wichtig ist der politische Wille.

Verfassungsreform, das klingt zunächst nach einer Materie für eingefleischte Spezialisten. Doch wenn es um die Ukraine geht, dann kommt man hier rasch ans Eingemachte, wie sich beim Nachmittagspanel unter dem scheinbar trockenen Titel „Verfassungsreform und politische Reform als Weg zu einer neuen Wirtschaft“ gezeigt hat.

Denn genau darum geht es: Wie kann man die Verfassung des zerrissenen Landes neu aufsetzen, damit einerseits die territoriale Integrität nicht untergraben wird (und Kiew zufrieden ist), andererseits eine wirkliche Dezentralisierung stattfindet (und die russischsprachigen Ukrainer im Osten des Landes zufrieden sind)? Russland und die von Moskau unterstützten bewaffneten Separatisten wird man ohnehin nicht zufriedenstellen können, doch davon war auch gar nicht die Rede.

„Nicht weitere zehn Jahre Zeit“

Viel war dafür von geduldigem Papier die Rede. Mehrere Redner, am deutlichsten Sachsens ehemaliger Ministerpräsident Georg Milbradt (CDU), wiesen darauf hin, dass selbst eine Einigung auf eine tatsächliche Dezentralisierung, wenn überhaupt, nur die halbe Miete wäre: „Ist das, was jetzt beschlossen wird, denn überhaupt umsetzungsfähig? Der Prozess ist mit einer neuen Verfassung nicht abgeschlossen, er beginnt damit.“ Pläne gebe es genug, sie lägen alle in der Schublade, meinte Milbradt: „Jetzt muss die Ukraine entscheiden, das können wir ihr nicht abnehmen. Aber sie hat nicht noch weitere zehn Jahre Zeit, um über Reformen nur zu reden.“

John Whittingdale, konservativer britischer Unterhausabgeordneter, warnte davor – nachdem er sich gebührend über das Nein der Schotten zu einer Abspaltung vom Vereinigten Königreich gefreut hatte –, lediglich dem Osten der Ukraine einen Sonderstatus zu geben. Genau das diskutiere man ja derzeit auch in Großbritannien: Wenn man den Schotten mehr Rechte gebe, könne man das den anderen drei Nationen (England, Wales, Nordirland) nicht gut vorenthalten. Dies gelte analog für die Ukraine: „Man kann nicht ein separates Gebiet mit Sonderrechten haben.“

Ex-Kanzler Wolfgang Schüssel brachte das Theoretisieren um das richtige Modell für die Ukraine wieder auf den Boden der Tatsachen zurück, indem er riet, den zweiten Schritt nicht vor dem ersten zu tun. Zunächst müsse man die Situation an der russisch-ukrainischen Grenze stabilisieren, bevor man mit der Versöhnung beginnen könne: „Derzeit müssen 80 Beobachter der OSZE hunderte Kilometer Grenze kontrollieren“, verdeutlichte er eines der drängendsten Probleme. Auch müsse man jene Dinge, die im Abkommen von Minsk nur unvollständig geregelt seien, konkreter fassen: „Es hat keinen Sinn, einfach den Ukrainern zu sagen: ,Ihr müsst das und jenes tun‘, und gleichzeitig den Russen zu sagen: ,Ihr dürft das und jenes nicht tun.‘“

Allerdings wies Schüssel auch darauf hin, dass man in Bezug auf Russland den Druck aufrechterhalten müsse, damit das Minsker Abkommen eingehalten werde. Wobei Schüssel da nicht unbedingt an weitere Sanktionen dachte, wie er im Gespräch mit der „Presse“ sagte: „Das Abkommen trägt ja immerhin die Namen der Präsidenten Putin und Poroschenko. Es ist einfach wichtig, darauf hinzuweisen, dass einzelne Elemente noch nicht voll umgesetzt sind. Das ist nicht ausschließlich die Schuld Russlands, auch andere haben da noch das eine oder andere zu tun.“

„Die Wahlen finden statt“

Das Monitoring, der Aufbau der OSZE-Präsenz etwa, sei auch wegen administrativer Probleme noch nicht dort, wo man eigentlich sein sollte, um wirklich einen flächendeckenden Überwachungsprozess zu haben: „Auch bei der Überwachung selbst ist noch nicht alles hundertprozentig klar, das verhandelt die OSZE gerade, und ich hoffe, dass das bald zustande kommt.“

Ob es klug ist, in der derzeitigen Situation, in der ein Teil des Landes unter der Kontrolle von Separatisten ist, Wahlen abzuhalten? Schüssel sieht das nüchtern: „Diese Wahlen finden statt, und damit ist die Frage beantwortet. Ich hoffe aber doch, dass die Kräfte der Vernunft so stark werden, dass man konsequent weiterarbeiten kann. Wenn das der Fall ist, dann waren die Wahlen auch sinnvoll.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.10.2014)

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