Wende in Kobane: „Stadt steht nicht vor der Eroberung“

Die umkämpfte nordsyrische Stadt Kobane.
Die umkämpfte nordsyrische Stadt Kobane.(c) APA/EPA/SEDAT SUNA (SEDAT SUNA)
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Die US-Bombardements in Kobane zeigen Wirkung, erklärt Idris Naasan, der "Außenminister" der autonomen Region Kobane, im Interview mit der „Presse“.

Die Bombardements der USA in Kobane zeigen Wirkung, die Jihadisten des IS wurden zurückgedrängt. Das erklärt Idris Naasan, der "Außenminister" der autonomen Region Kobane, im Interview mit der „Presse“.

Herr Naasan, sind Sie vor den anrückenden Islamisten aus Kobane geflohen?

Idris Naasan: Nein, nein, ich bin nicht geflüchtet. Ich muss nur politische Aufgaben in der Türkei erledigen, offizielle Kontakte wahrnehmen und mit Hilfsorganisationen planen. Meine Regierungskollegen sind alle geblieben und kämpfen an der Front. Ich werde nicht lange in der Türkei bleiben und bald nach Kobane zurückkehren.

Sie machen einen gelassenen Eindruck, obwohl es heißt, der Fall von Kobane steht unmittelbar bevor.

Das ist nur ein Gerücht der Medien. Ich kann Ihnen versichern, Kobane steht nicht vor der Eroberung.

Aber IS soll bereits das Stadtzentrum erreicht haben und ein Drittel der Stadt kontrollieren.

Am Mittwoch mögen die Terroristen noch ein Drittel kontrolliert haben. Mittlerweile ist das nicht mehr so. Der IS wurde im Osten auf einen Kilometer, im Westen auf fünf Kilometer zurückgedrängt.

Haben die Bombenangriffe der internationalen Koalition endlich Wirkung gezeigt?

Ja, seit zwei Tagen bombardiert die Koalition zum ersten Mal intensiv und effektiv. Endlich tut sie das, was wir seit Beginn der IS-Offensive forderten. Die Kampfflugzeuge greifen Fahrzeuge und Stellungen von IS auch untertags an. Die Angriffe in der Nacht waren nahezu wirkungslos, da der IS seine Waffen und Fahrzeuge verstecken konnte.

Der Erfolg der neuen Bombenangriffe deutet auf eine Kooperation zwischen den kurdischen Volksverteidigungskräften (YPG) und der Koalition hin. Stimmt das?

Ja, seit zwei Tagen gibt es eine Zusammenarbeit. Wir geben die Koordinaten der Ziele durch, die dann bombardiert werden.

Die beteiligten Länder bevorzugen gewöhnlich eigene Spezialisten, die am Boden selbst die Zielbestimmung vornehmen. Sind in Kobane Soldaten der Koalition stationiert?

Nein, wir alleine liefern bisher die Informationen. Die Zusammenarbeit ist nicht offiziell oder formal abgesegnet. Wir hoffen aber, dass sich das bald ändert. In den letzten 48 Stunden wurde so stark wie nie zuvor bombardiert.

Machen Sie sich mit einer offiziellen Kooperation nicht etwas vor? Die PYG gilt als Ableger der kurdischen Arbeiterpartei (PKK) aus der Türkei. Sie steht in den USA und in einigen europäischen Ländern auf der Terrorliste. Das macht die Sache schwierig, wenn nicht sogar unmöglich.

Wir als syrische PYG sind etwas vollkommen anderes als die PKK. In Kobane sind keine Kämpfer der PKK.

US-Außenminister John Kerry sagte vor zwei Tagen, Kobani sei kein Ort „von großer strategischer Bedeutung“. Das klingt nicht gerade vielversprechend.

Was sind das nur für Erwägungen – strategisch oder nicht? Man sollte an die Menschen denken, die durch die IS-Offensive in Gefahr sind, an die fast 200.000 Flüchtlinge, die alles verloren haben. Immer diese ökonomisch-politischen Erwägungen, die keine Rücksicht auf menschliche Individuen nehmen. Die USA sollten mit unserer autonomen Regierung besser und direkt kooperieren. So würde man mehr Menschlichkeit garantieren.

Wie lange kann Kobane gegen den IS noch gehalten werden?

Wenn wir Waffenhilfe bekommen, dann können wir die Stadt problemlos halten und den IS sogar vertreiben.

Sind Waffen von der Koalition in Aussicht gestellt?

Nein. Wir haben Lieferungen gefordert, aber bisher nichts erhalten und es sind keine in Aussicht gestellt.

Dann ist es ist nur eine Frage der Zeit bis Kobani fällt?

Ohne neue Waffen ist das wohl unvermeidlich.

Wie viele Kämpfer der Terrorgruppe stehen der YPG in Kobani gegenüber?

Es sollen zwischen 10.000 und 15.000 Islamisten sein. Sie haben in den letzten Tagen Verstärkung aus ihrer Hauptbasis Raqqa erhalten sowie aus der nahe gelegenen der Grenzstadt Jarabulus. Es kamen weitere schwere Waffen, die IS im Irak erbeutet hat. Wir haben dagegen nur leichte Waffen.

Im Gefängnis von Kobane sollen rund 700 islamistische Kämpfer sitzen. Ist das nicht einer der Gründe für die Offensive des IS? Wie steht es um das Gefängnis und seine Insassen?

Ehrlich gesagt, weiß ich das nicht. Das Gebäude ist ein uralte Burg im Osten der Stadt und wurde von IS einmal eingenommen. Danach hat es die YPG wieder zurückerobert. Im ganzen Durcheinander weiß niemand, was mit den Insassen passiert ist. Sind sie frei oder immer noch gefangen oder verlegt worden? Sie könnten auch tot sein, denn das Gefängnis wurde von der Koalition bombardiert.

Bewohner aus Kobane, die geblieben sind, erzählen die Straßen der Stadt seien voller Leichen.

Das stimmt nur zum Teil. Einige Leichen von IS-Kämpfern liegen auf den Straßen herum. Wir versuchen alle Toten so schnell wie möglich zu bergen und zu begraben. Aber manchmal geht das wegen Scharfschützen oder Bombardierungen nicht.

Idris Naasan ist "Außenminister" der autonomen Regierung in Kobane. Die syrische Stadt an der türkischen Grenze wird seit dem 15. September vom Islamischen Staat (IS) angegriffen. Aus Angst vor der extremistischen Terrormiliz sind 200.000 Menschen in die Türkei geflüchtet. Außenminister Naasan kam vor zwei Tagen über die Grenze nach Suruç.

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