„Türkei wird nie gegen IS kämpfen“

PKK-Chef Cemil Bayik im Gespräch mit
PKK-Chef Cemil Bayik im Gespräch mit "Presse"-Redakteur Wieland SchneiderSchneider
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PKK-Vorsitzender Cemil Bayik warnt vor dem Ende des Waffenstillstands mit Ankara. Es gebe keinen Friedensprozess mehr. Der Türkei wirft er vor, mit IS-Extremisten unter einer Decke zu stecken.

Qandil. Die Sicherheitsvorkehrungen sind streng. Der Rucksack darf zum Interview nicht mitgebracht werden – und keine Handys, da sie geortet werden könnten. Dann geht es in einem Geländefahrzeug der PKK kilometerweit über die verwinkelten Straßen der Qandil-Berge. Hier, im mächtigen Gebirgsmassiv an der Grenze zwischen der irakischen Kurdenregion und dem Iran, hat die kurdische Untergrundorganisation ihr Hauptquartier aufgeschlagen. Die letzten paar hundert Meter führen zu Fuß durch ein kleines, ausgetrocknetes Tal und über schmale Pfade weiter hinein in die Berge.

Auf weißen Plastiksesseln zwischen Bäumen empfängt der PKK-Vorsitzende, Cemil Bayik, zum Gespräch. Vor einem Jahr hat die Kurdische Arbeiterpartei, PKK, einen Friedensprozess mit dem türkischen Staat gestartet. Und nun sind Kämpfer der PKK und der mit ihr verbündeten syrisch-kurdischen YPG-Kräfte in schwere Gefechte mit der Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) verwickelt, vor allem in der umkämpften syrischen Kurdenstadt Kobane, die von der YPG verteidigt wird.

Die Presse: Was erwarten Sie angesichts des IS-Angriffs auf Kobane von den USA und der internationalen Gemeinschaft?

Cemil Bayik: Die internationale Koalition behauptet, gegen den IS zu kämpfen. Wenn das stimmt, müsste sie die YPG-Volksverteidigungseinheiten unterstützen, die dem IS in Kobane harte Gefechte liefern. Das passiert aber nicht. Die Panzer des IS sind aus der Luft klar zu erkennen. Wenn die Koalition den IS wirklich hart treffen will, dann könnte sie das tun.

Aber die USA haben doch zuletzt Angriffe gegen den IS bei Kobane geflogen.

Die Koalition hat nur wenige IS-Ziele getroffen, oft nur leere Einrichtungen. Das ermuntert den IS, noch heftiger als bisher anzugreifen. Die internationale Koalition hält sich zurück – offenbar aus Rücksicht auf die Überlegungen der türkischen Regierung: Das Nato-Mitglied Türkei will, dass die PKK und die Kräfte, die Kobane verteidigen, genauso behandelt werden wie der IS. Und es will die Erlaubnis dafür, eine Pufferzone in Syrien einzurichten.

Könnte eine Pufferzone nicht auch hilfreich im Kampf gegen den IS sein? Die türkische Armee könnte mit ihren Panzern in Kobane eingreifen und so die Kurden vor dem IS retten.

Die Türkei wird nie wirklich gegen den IS kämpfen. Sie hat diese Terrorgruppe lang unterstützt. Türkische Spezialeinheiten koordinieren die IS-Angriffe auf Kobane. Ankara benützt den IS als Werkzeug, um die kurdische Revolution und die Selbstverwaltungsstrukturen in Rojava (syrische Kurdengebiete, Anm.) zu vernichten.

Das sind sehr schwere Vorwürfe.

Wir haben dafür Beweise: IS-Kämpfer konnten immer wieder ungehindert die türkische Grenze passieren, um Kobane anzugreifen. Zugleich haben türkische Grenztruppen aber auf Fahrzeuge der YPG geschossen.

Die türkische Regierung hat zuletzt aber zugesagt, sich am Kampf gegen den IS zu beteiligen.

Sie lügt. Würde sie gegen den IS kämpfen, würde sie die YPG unterstützen.

Angesichts der Vorwürfe, die Sie hier gegen die Türkei erheben: Was bedeutet das für den Friedensprozess zwischen der PKK und der türkischen Regierung?

Es gibt jetzt keinen Friedensprozess mehr. Der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdoğan, benutzt den Waffenstillstand, um Wahlen zu gewinnen. Die türkische Seite hat die Militärstützpunkte in den Kurdengebieten ausgebaut. Und den Anwälten unseres inhaftierten Anführers Abdullah Öcalan wurde nicht erlaubt, ihn zu treffen. Wir wollten, dass eine dritte Partei unsere Verhandlungen mit Ankara überwacht: entweder die internationale Gemeinschaft, eine Parlamentskommission oder Gruppen aus der Zivilgesellschaft. Aber Ankara hat nichts davon akzeptiert. Und jetzt hat das türkische Parlament einem Gesetz zugestimmt, wonach türkische Truppen in Syrien und dem Irak tätig werden dürfen. Dieses Gesetz richtet sich nicht gegen den IS, sondern gegen die PKK. Mit diesem Gesetz hat Ankara dem Friedensprozess ein Ende gesetzt.

Bedeutet das, dass die PKK wieder den Kampf in der Türkei aufnimmt? Sie müsste dann ja an zwei Fronten kämpfen: gegen den IS und gegen die türkische Armee.

Wir haben den Friedensprozess bis jetzt weitergetragen. Aber die Türkei ist nicht mitgegangen. Sie hat uns als Alternative nur den Kampf gelassen. Die türkische Regierung glaubt, dass sie Zeit gewinnen kann und wir inzwischen unsere Fähigkeit zu kämpfen verlieren. Die PKK hat die Fähigkeit, gleichzeitig an mehreren Fronten aktiv zu sein. Wir werden nie kapitulieren. Wir werden aber auch nie andere attackieren, sondern immer nur bei Selbstverteidigung bleiben. Der Kampf gegen den IS und der Kampf gegen die Türkei sind für uns ein und derselbe Kampf. Denn die Türkei benutzt den IS als Waffe. Damit stellt sie nicht nur ein Problem für die Kurden dar, sondern auch für die Nato und die Europäer.

Die Türkei ist aber immerhin ein wichtiges Nato-Mitglied und EU-Beitrittskandidat. Die PKK steht hingegen auf der EU-Terrorliste.

Das ist eine große Ungerechtigkeit. Der IS gilt heute als die schlimmste Terrororganisation und unsere Bewegung leistet gegen den IS erfolgreich Widerstand. Wenn unsere Kämpfer den Yeziden nicht zu Hilfe geeilt wären, hätte der IS ein gewaltiges Massaker im Sinjar-Gebirge angerichtet. Die PKK muss endlich von der Terrorliste gestrichen werden.

Mit dem IS haben die verschiedenen kurdischen Fraktionen, von der PKK bis zu den Parteien in der autonomen Kurdenregion im Irak, nun einen gemeinsamen Feind. Sehen Sie das als ersten Schritt zu mehr Einigkeit unter den Kurden?

Es gibt Zeiten, in denen dein Feind dein bester Lehrmeister ist. Der IS ist eine große Bedrohung für alle Kurden. Und deshalb sind verschiedene kurdische Kräfte zusammengerückt, um sich gemeinsam dieser Bedrohung zu stellen. Wir rufen nun auch alle kurdischen Fraktionen dazu auf, einen nationalen Kongress abzuhalten, auf dem eine gemeinsame Strategie erarbeitet wird. Dabei müssen auch gemeinsame Streitkräfte auf die Beine gestellt werden.

Aber glauben Sie, dass die Führung der Kurdenregion im Irak gemeinsame Streitkräfte akzeptieren wird?

Sie sollte es akzeptieren, denn das ist im Interesse aller Kurden. Es geht darum, einen Dachverband für alle Guerrillaeinheiten und Peschmergatruppen zu haben. Das heißt aber nicht, dass die Guerrilla- oder Peschmergaeinheiten aufgelöst werden sollen. Sie können ihr jeweiliges internes System beibehalten. Die Zusammenarbeit hat schon in der Praxis funktioniert, etwa in Mahmur, Kirkuk oder Rabia. Dort haben die Guerrillakräfte und die Peschmerga Seite an Seite gegen den IS gekämpft und Erfolge erzielt.

Was sind die größten Schwierigkeiten im Kampf gegen den IS?

Der IS hat viele moderne Waffen: Panzer, Raketenwerfer, weitreichende Artillerie. Wenn wir dieselben Waffen hätten, könnte der IS nichts gegen uns ausrichten. Mit den Waffen, die unsere Guerrillakräfte jetzt haben, können sie sich selbst gut schützen. Aber es ist schwierig, damit die Bevölkerung und die Städte zu verteidigen.

Zur Person


Cemil Bayik, Kampfname Cuma, führt gemeinsam mit Bese Hozat die Koma Civaken Kurdistan (KCK), die oberste Dachorganisation der PKK und der PKK-Schwesterparteien in Syrien und im Iran. Der KCK sind auch die militärischen Guerillaverbände der PKK untergeordnet. Bayik und Hozat lösten vergangenes Jahr Murat Karayilan als KCK-Chef ab, der jetzt den militärischen Arm der PKK leitet. Bayik hatte sich bereits 1976 der PKK angeschlossen und führte bis 1995 den militärischen Flügel der PKK an.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.10.2014)

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