Ukraine: Aktivisten fordern Oligarchen heraus

(c) EPA (Sergey Dolzhenko)
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Bei der Parlamentswahl am kommenden Sonntag kandidieren Maidan-Aktivisten um Abgeordnetensitze.

Kiew. Serhij Leschtschenko hat sich ein halbes Jahr gegeben. „In dieser Zeit werden wir sehen, ob es Veränderungen geben kann“, sagt der frühere Vize-Chefredakteur der Internetzeitung „Ukrainskaja Prawda“. „Ich habe nicht vor, mein ganzes Leben Politiker zu sein.“

Der 34-Jährige hat einen kühnen Plan. Er möchte bei der Parlamentswahl nächsten Sonntag als Abgeordneter für die Präsidentenpartei „Block Petro Poroschenko“ in die Werchowna Rada einziehen. Als 19. auf der Liste stehen seine Chancen auf einen Sitz gut. Das, was Leschtschenko und andere Journalisten und Maidan-Aktivisten versuchen, ist nicht ganz neu: Schon im Gefolge der Orangen Revolution vor zehn Jahren kamen Künstler und Aktivisten ins Parlament, um das System „von innen zu verändern“. Doch sie gaben bald auf, der Pakt zwischen Politik und Oligarchie war zu stark.

Leschtschenko wagt einen zweiten Anlauf. „Journalist zu sein, ist komfortabel: Wir kritisieren“, sagt der hochgewachsene junge Mann in Jeans und Sportschuhen, der in seiner 14-jährigen Karriere mit Aufdeckerberichten über die Machenschaften des Janukowitsch-Clans berühmt geworden ist. „Als Politiker bieten wir Veränderungen an.“

Die vorgezogene Parlamentswahl solle die Forderungen der Protestbewegung – proeuropäische und wirtschaftliche Reformen, Einschreiten gegen Korruption – endlich einleiten. Trotz des Krieges in der Ostukraine und der budgetären Bedrängnis hat Präsident Poroschenko den Urnengang angesetzt. Es nicht zu tun, wäre politisch riskant gewesen. Denn die Menschen in der Ukraine sind ungeduldig, die Stimmung ist explosiv. Dass Abgeordnete nicht mehr unantastbare Menschen sind, zeigen die häufigen Demos und rabiater Aktionismus. Aufgebrachte Bürger haben zuletzt mehrfach hohe Politiker in Mülleimer befördert, wenn sie mit deren Performance nicht zufrieden waren. „Früher konnte man sich einem Politiker nicht mal nähern“, sagt Leschtschenko. „Mittlerweile ist es ganz schön gefährlich, korrupt zu sein.“

Moment zum Mitmischen ist gekommen

Der Druck der Bürgergesellschaft hat seit den Umbrüchen zugenommen. Leschtschenko und die anderen glauben, der Moment zum Mitmischen sei gekommen. Das sei auch der Grund, erklärt Leschtschenko, warum er und sein prominenter Kollege Mustafa Nayem, bisher bei Hromadske TV, die Partei der Macht gewählt hätten. „Oppositionsarbeit ist nicht effektiv.“ Der deutsche Ukraineexperte Winfried Schneider-Deters sieht in den Neo-Politikern „Wächter der Demokratie“. Initiativen wie diese würden zum „Wandel des politischen Personals“ beitragen. Die Zeichen stehen auf Veränderung – doch wie effektiv können die Politiker-Aktivisten sein? Werden sie ihre ambitionierten Pläne – die Eindämmung der Oligarchen und den Kampf gegen Korruption – umsetzen können?

Die Zivilgesellschaftsaktivisten aller Couleurs haben gelobt, im neuen Parlament zusammenzuarbeiten. Dennoch werden sie nur eine kleine Gruppe in der 450 Sitze zählenden Rada sein. Neben der Präsidentenpartei, der Umfragen mit etwa 33 Prozent den ersten Platz prognostizieren, kandidieren mehrere proeuropäische Gruppierungen. Julia Timoschenkos Vaterlandspartei dürfte Stimmen an das neue Projekt Volksfront des bisherigen Premiers Arsenij Jazenjuk verlieren, der mit Pro-Nato-Linie die gleichen Wählerschichten anspricht. Auch dem Lemberger Bürgermeister Andrij Sadowij könnte mit seiner Partei Selbsthilfe knapp der Einzug in die Rada gelingen. Als Nachfolgeprojekte der zerfallenen Partei der Regionen gelten die Formation Starke Ukraine von Ex-Vizepremier Serhij Tigipko sowie der Oppositionsblock von Ex-Energieminister Jurij Bojko, in dem sich die frühere politische Elite aus der Ära von Ex-Präsident Viktor Janukowitsch schart.

Die neue Rada wird also nur teilweise erneuert. Das liegt auch am alten Wahlgesetz, nach dem am Sonntag abgestimmt wird. 199 von 450 Sitzen füllen Direktkandidaten aus den Wahlkreisen. Häufig sind das einflussreiche lokale Geschäftsleute, die sich aufgrund ihrer Ressourcen gegen andere Kandidaten durchsetzen. Viele dieser nominell „Unabhängigen“ gelten als käuflich. Wieder steht zu befürchten, dass sie ihre Stimme dem jeweils meistbietenden politischen Sponsor geben werden.

Während zur Zeit Janukowitschs die Partei der Regionen das vorrangige Investitionsobjekt von Sponsoren wie Rinat Achmetow und Dmitrij Firtasch war, ist nach dem Machtwechsel Unruhe in die Szene gekommen. Serhij Leschtschenko glaubt nicht, dass sich der Einfluss der Oligarchen verringert hat – im Gegenteil. „Janukowitsch war der Superoligarch. Alle anderen haben sich ihm untergeordnet und dafür Vorteile bekommen. Dieses System ist nun zerstört.“ In der neuen Situation müssen sich die mächtigen Finanziers umorientieren und ihre Einsätze neu verteilen – auf mehrere Pferde, wie der Kiewer Analyst Wolodymyr Gorbatsch erklärt.

Transparenz in Parteienfinanzierung

Auch Poroschenkos Block ist ein weitgehend ideologiefreies Konglomerat aus Aktivisten, Anhängern von Vitali Klitschkos Partei Udar, Business-Vertretern sowie Menschen mit zweifelhafter Vergangenheit. „Poroschenko ist ein Mensch, der den Kompromiss mit allen sucht“, sagt Leschtschenko, der nach eigenen Angaben nicht Mitglied des Blocks ist. Der 34-Jährige will sich nicht der Klubdisziplin unterordnen. Er werde nicht für Projekte stimmen, die er nicht mittragen könnte, sagt er.

Fraglich ist jedoch auch, ob sich korrumpierte Abgeordnete, Parteichefs und Oligarchen für die Reformprojekte erwärmen werden, die Leschtschenko mit Gleichgesinnten nach der Wahl anstoßen möchte: etwa das Gesetz über Transparenz in der Parteienfinanzierung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.10.2014)

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