Geboren in Riga, aber stolz, Russe zu sein

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In der Balten-Republik sind 40 Prozent Russen. Besonders die Jungen bewundern Moskaus neue Stärke.

RIGA. „Mama, willst du einen Witz hören?“, fragt Anna und sprudelt heraus, was sie im Schulhof gehört hat: „Wir haben doch den Song Contest gewonnen, und die Fußballer von Zenit St. Petersburg den Uefa-Pokal. Wir sollten jetzt rasch einen Dritten Weltkrieg beginnen, bevor unsere Glückssträhne endet.“ Mutter Jelena verdreht die Augen.

Was eine 15-Jährige lustig findet, ist Jelena peinlich. Doch sie weiß, dass unter den Klassenkameraden ihrer Tochter der Chauvinismus blüht. Anna geht in eine russische Eliteschule im lettischen Riga und lebt in dem Spannungsfeld zwischen Letten, die „die Russen“ immer noch als Okkupanten sehen und Russen, die das Land, in dem sie leben, weder mögen noch ernst nehmen.

Fremd in der eigenen Heimat

Mehr als ein Drittel von Lettlands Bevölkerung hat Russisch als Muttersprache. 350.000 Menschen sind „Nicht-Bürger“ mit einem Fremdenpass, weil sie die für den Erwerb der lettischen Staatsbürgerschaft nötigen Sprachkenntnisse nicht erbringen oder auch nur keine Lust haben, den Einbürgerungsantrag zu stellen. Das ist der Ballast eines halben Jahrhunderts sowjetischer Besetzung, in dem die Ansiedlung russischer Arbeitskraft massiv gefördert wurde.

Jetzt wächst eine neue Generation heran, die schon im unabhängigen Lettland geboren ist – und immer noch fremd in ihrer Heimat. Viele von ihnen sprechen mühelos Lettisch, viele haben inzwischen auch den lettischen Pass, doch sie fühlen sich als Russen und ihre Loyalität gilt Moskau, nicht Riga.

Russe zu sein ist schließlich wieder etwas, worauf man stolz sein kann. Die Fußballer von Zenit St. Petersburg haben Bayern München zerlegt und den Uefa-Pokal gewonnen, die russischen Eishockeystars die Weltmeisterschaft, der Sänger Dima Bilan den Song Contest der Eurovision. „Da konnte ich durch meinen Wohnblock gehen und am Jubel hören, wo die Russen wohnen“, sagt Jelena. Und die Jungen zogen durch Riga und feierten.

„Hier sind die Russen marginalisiert. Dann liegen ihre Sympathien eben woanders“, sagt Nil Uschakow, der 31-jährige Parteichef des „Harmonie-Zentrums“, das nach seiner Einschätzung „80 Prozent Russischsprachige“ unter seinen Wählern hat. Eine „ohne Respekt“ durchgeführte Schulreform, die russische Schüler zwingen wollte, mehr Unterricht auf Lettisch zu absolvieren, nennt er als Schlüsselerlebnis. „Die jungen Russen werden russischer“, sagt Anna Muhka, Verlagsmanagerin der Zeitung „Diena“. Die Siegesfeiern des 9. Mai waren früher ein Fest der Veteranen. Jetzt kamen auch junge Familien zum russischen Denkmal.

„Freiwilliger Beitritt“ zur Sowjetunion

Sandra Kalniete, Lettlands frühere Außenministerin, die als Kind nach Sibirien verschleppt wurde, war schockiert, als sie in einem russischen Gymnasium mit den Schülern über Geschichte diskutierte: „Sie akzeptierten nur die russische Sichtweise, dass Lettland freiwillig der Sowjetunion beitrat.“ Putin ist ihr Idol, von den lettischen Politikern kennen sie kaum den Namen.

„Russland wird reich und stabil, und das mögen die Leute“, sagt Uschakow. Im Nobel-Badeort Jurmala kommen die Superreichen aus Moskau im Bentley und Armani-Anzug an. Das imponiert. In Lettland galoppiert die Inflation, das merken die Pensionisten und jungen Familien besonders.

„In Lettland sehen sie die Missstände. Dass in Russland alles noch viel schlimmer ist, merken sie nicht“, meint Uschakow. Ihre Informationen beziehen die russischsprachigen Einwohner fast ausschließlich von russischen Medien. „Kein lokaler TV-Kanal kann mit jenen aus Moskau konkurrieren. Und dann ziehen sich die Leute mit den Soaps auch die Kreml-Propaganda rein.“

„18 Jahre Unabhängigkeit, und die Integration klappt einfach nicht“, klagt Kalniete. Man lebe „nebeneinander, statt zusammenzuwachsen“. Immerhin: nicht gegeneinander. Es gibt russische Siedlungen, russische Medien, russische Internetforen. Die Stadt ist „friedlich aufgeteilt“, sagt Muhka. In die Klubs, in die junge Russen gehen, gehen die Letten nicht, und umgekehrt. „Russen mögen Techno, Letten mögen Techno. Aber nicht am selben Ort.“ Andererseits liegt die Zahl der gemischten Ehen bei 20 Prozent, so wie in den sowjetischen Zeiten, als es offiziell keine Nationalitätenfrage gab.

„Russen können nicht assimiliert werden“

„Was uns trennt, sind der Blick auf die Geschichte, Russlands Einfluss und die Fehler, die wir in der Nationalitätenpolitik der 90er-Jahre gemacht haben“, sagt Ex-Außenminister Artis Pabriks. Mit antirussischen Parolen ließen sich Wahlen gewinnen, doch man stieß auch die Russen ab, die dem jungen Staat anfangs positiv gegenübergestanden waren. Und man gab Moskau den Vorwand, sich als Schutzmacht der Minderheit aufzuspielen, um den eigenen Einfluss in der Region wieder zu stärken.

Uschakow möchte, dass der Staat „freundlicher wird“: „Wem schadet es, wenn ein russischer Pensionist seinen Antrag auf Russisch stellt?“ Heute muss aller Schriftverkehr in der einzigen offiziellen Landessprache Lettisch abgewickelt werden – auch wenn der bearbeitende Beamte ebenfalls Russe ist. Und er stellt klar: „60 Prozent können nicht 40 Prozent assimilieren.“

FAKTEN

Im Juni 1940 marschierten russische Truppen in Lettland ein. 100.000 Letten wurden nach Sibirien deportiert.

Mit dem Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion 1941 geriet auch Lettland unter deutsche Kontrolle. Nicht wenige Letten kollaborierten mit Wehrmacht und SS. Fast die gesamte jüdische Bevölkerung Lettlands wurde ermordet.

1944 vertrieb die Rote Armee die Deutschen. Das Land wurde erneut Teil der Sowjetunion. Moskau siedelte in Lettland zahlreiche Russen an.

Erst 1990/1991 wurde Lettland wieder unabhängig; seit 2004 ist es Mitglied der EU.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.06.2008)

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