Gaza: „Ich würde die israelische Flagge hissen“

Ohne internationale Spenden und Schmuggelware müssten viele Palästinenser Hunger leiden.
Ohne internationale Spenden und Schmuggelware müssten viele Palästinenser Hunger leiden.(c) EPA
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Reportage. Gemäßigte Palästinenser in Gaza leiden Not – und sehnen sich nach der Besatzung zurück.

GAZA. Die Adresse von Adeeb Jussef Zarouq gehört zu den besseren in Gaza. Der 45-jährige Elektriker wohnt zentral an einer der belebtesten Straßen der Stadt, die noch dazu direkt zum Meer führt. Kaum fünf Minuten Fußweg sind es bis zum Strand, doch Adeeb geht schon seit Monaten kaum noch aus dem Haus. „Jede noch so kurze Autofahrt kostet Geld“, sagt er. „Wir haben nichts mehr, nur Schulden.“

Die meisten Autofahrer, egal ob sie ein Taxi haben oder einen privaten PKW, lassen es sich mit umgerechnet ein paar Cent bezahlen, wenn sie jemanden ein Stück mitnehmen. Seit Israel die Öllieferungen drastisch eingeschränkt hat, steigen die Preise. Die Führung der Hamas kontrolliert die Verteilung mit Hilfe von Coupons. Taxifahrer dürfen 40 Liter Diesel wöchentlich zu normalen Raten tanken, Journalisten 20 Liter. Wer mehr braucht, muss sich auf dem Schwarzmarkt versorgen, wo er ein Vielfaches bezahlt.

„Wir leben von Schmuggelware“, erklärt Adeeb. Er selbst raucht Marlboro für fünf Schekel (ein Euro) pro Schachtel, ein Viertel des üblichen Preises. Durch die nach Ägypten führenden Tunnel wird praktisch alles geliefert: lebende Tiere, Büchsenfleisch, Kleidung, Benzin, komplette Motorräder und natürlich Waffen.

Trotz der seit zwei Monaten anhaltenden Waffenruhe beschränkt Israel die regulären Warenlieferungen an die Bewohner des Gazastreifens auf Obst, wenige Milchprodukte, Öl, Reis und Zucker; alles in so geringem Umfang, dass die Produkte weit über ihrem Wert gehandelt werden. Als Mitte der Woche doch wieder Raketen auf Israel abgeschossen wurden, ging sofort das Gerücht um, es sei ein Händler gewesen, der die Preise für seine Ware hochtreiben wollte, indem er Israel provozierte, die Lieferungen wieder einzustellen.

Adeebs Frau entschuldigt sich, als sie den stark nach Kardamon riechenden Kaffee in dünne Plastikbecher gießt. Richtige Gläser besitzt sie nicht mehr. Fast 30 Jahre lang gehörte die Familie zum palästinensischen Mittelstand. Adeeb hatte als Elektriker in Israel ein gutes Einkommen, konnte sich problemlos die Miete von 150 Dollar für seine Drei-Zimmer-Wohnung leisten und seine acht Kinder ernähren.

Zu essen gibt es Linsen

„Linsen“, sagt er heute auf die Frage, was auf dem Speiseplan der Familie steht. Die gab es gestern auch schon. Ganze 20 Schekel (vier Euro) würde ein Paar Plastiksandalen für Adeebs 11-jährigen Jungen kosten. Er bedeutet seinem Sohn, die alten Schuhe zu holen. Seit der Riemen gerissen ist, geht der Bub barfuß. Der finanzielle Einbruch kam, als Israel im Sommer 2005 die jüdischen Siedler aus dem Gazastreifen holte und kurz darauf den Arbeitern die Einreisegenehmigungen entzog. Tausende Palästinenser, die ihren Lebensunterhalt bei den Israelis verdienten, sind seither ohne Einnahmen.

Die Zarouqs hatten immerhin noch das Gehalt des ältesten Sohnes Amjad, der als Polizist im Dienst der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) monatlich 1500 Schekel (rund 300 Euro) nach Hause brachte, bis die Hamas die Wahlen gewann und der internationale Boykott die Gelder und damit die Gehaltszahlungen für die PA-Angestellten stoppte. Erst seit der Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen und der Regierungsneubildung im Westjordanland bezieht Amjad wieder regelmäßig ein Gehalt, ohne indes dafür zu arbeiten. Die PA zahlt weit über 50.000 Angestellten ihren monatlichen Lebensunterhalt, obwohl sie zur Untätigkeit gezwungen sind. Der komplette Sicherheitsdienst ist längst in der Hand der Islamisten. Nach und nach übernehmen die Anhänger der Hamas auch die anderen Posten in Verwaltungen, Krankenhäusern und im Erziehungsbereich.

Die der Fatah nahe stehenden Gruppen leben von der PA, die Islamisten von den zumeist aus dem Iran an die Hamas-Führung fließenden Geldern. Der Rest muss mit den regelmäßigen Nahrungsmittelspenden der UNRWA, der UN-Organisation für palästinensische Flüchtlinge, zurechtkommen. „Die Hamas ist noch viel korrupter als die Fatah“, schimpft Adeeb. Sein Schwager, der im Sicherheitsdienst der islamistischen Herrscher arbeitet, „kriegt nicht nur ein ordentliches Gehalt, sondern alle zwei Wochen große Geschenkpakete“.

Kluft zwischen Hamas und Fatah wächst

Die Kluft zwischen dem vom Westen finanzierten Westjordanland und dem zumeist von Teheran unterstützten Gazastreifen vertieft sich. Immer brutaler bauen beide Seiten ihre Macht aus, unterdrücken Demonstrationen, verhaften und foltern politische Gegner. Wenn es nach Adeeb ginge, „sollten die israelischen Soldaten mit der Hamas aufräumen“ und den Gazastreifen komplett neu besetzen. „Ich würde sogar die israelische Flagge hissen, und das nicht, weil ich Israel so sehr mag, sondern weil ich wieder arbeiten könnte.“ 18.000 Dollar Schulden haben sich in den letzten Jahren angesammelt: ausständige Miete und offene Rechnungen im Supermarkt. „Früher“, sagt Adeeb, „hat niemand an meine Tür geklopft, um Geld zu kassieren.“

WISSEN

Der Gazastreifen am Mittelmeer besteht zum Großteil aus Sand. Nur 14 Prozent der Fläche sind für die Landwirtschaft nutzbar. Gaza gehört zu den Palästinensischen Autonomiegebieten und wird offiziell von der Palästinensischen Autonomiebehörde verwaltet. De facto steht es aber seit dem bewaffneten Machtkampf im Sommer 2007 unter der Kontrolle der radikalen Hamas. Israel, das den Großteil der Grenzen sowie Wasser und Strom überwacht, hat auf den De-facto-„Machtwechsel“ mit Repressalien reagiert. 81 Prozent der Menschen in Gaza leben laut FAO unter der Armutsgrenze.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.08.2008)

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