Die Urangst der Litauer vor den Russen

Bahnstrecke in vilnius
Bahnstrecke in vilnius(c) AP (MINDAUGAS KULBIS)
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In Litauen ist das historische Erbe stets lebendig – und die Georgien-Krise hat die Furcht neu geschürt.

VILNIUS.Mit 57 ist Virgilius Kalade Bauer geworden. Da hat seine Frau die 50 Hektar Land zurückbekommen, die vor dem Krieg ihrer Familie gehört hatten, sie aber war als Chefärztin in Vilnius unabkömmlich. So kündigte Kalade seinen gut bezahlten Job als Programmierer in einem großen litauischen Elektronikkonzern, zog aufs Land nach Sudeikiai, wo er nun Getreide anbaut und Schweine züchtet.

Zwölf Jahre ist das her. Den Grund zu verkaufen, kam ihm nicht in den Sinn. Endlich war das Land wieder in den Händen der rechtmäßigen Besitzer. 50 Hektar sind kein Großgrundbesitz, aber ein schönes Stück Land, von dem die Familie einst gut leben konnte.

Als die Sowjetunion Litauen besetzte, beschlagnahmte sie es und verstaatlichte allen Boden. Der Familienvater wurde nach Sibirien verbannt. Warum? „50 Hektar reichten für die Verbannung“, sagt Kalade, eine Verleumdung und eine manipulierte Zeugenaussage garantierten den Schuldspruch.

Sechs Jahre lang verbarg sich die Mutter, dann wurde auch sie ergriffen und deportiert, als Frau eines „politischen Gefangenen“. Fast 20 Jahre sollten vergehen, ehe sie wieder nach Litauen durfte.

Das sind Schicksale, die die Litauer mit einem Achselzucken erzählen, weil fast jede Familie Ähnliches berichten kann. Das prägt. Das sind Wunden, die nicht heilen. Das weiß auch Justinas Karosas, der Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses im Parlament: „Jeder Konflikt mit Russland weckt alte Erinnerungen.“ An die Okkupation, Deportationen, willkürlichen Verhaftungen und Hinrichtungen der Nachkriegszeit.

Die Jüngeren haben erlebt, wie die Sowjetunion Litauens Freiheitskampf zu brechen versuchte, wie der Kreml Wirtschaftsblockaden verhängte und wie sowjetische Panzer Demonstranten überrollten, die Parlament und Fernsehturm schützten.

„Man kann schon Freund mit den Russen sein“, sagen die Bauern am Stammtisch in Sudeikiai, „aber man muss immer einen Stein in der Hand haben.“ Jetzt heißt der Stein Nato. Wie die Rentnerin Dauguole sagt: „Die Russen wollen uns haben, aber sie kriegen uns nicht, weil wir in der Nato sind.“

Doch die Georgien-Krise hat die alten Ängste neu geschürt. „In Georgien hat Russland das große Ziel geprobt“, verkündete Litauens Präsident Valdas Adamkus. Dann sei die Krim dran, dann die Balten.

Nicht allen in Litauen passt diese klare Sprache. „Wir sind ein kleines Land. Wenn man an unsere geopolitische Lage denkt, sollten wir vorsichtiger agieren und keine Emotionen anstacheln“, meint der Sozialdemokrat Karosas. Litauen solle sich lieber an Deutschland und Frankreich orientieren.

„Wir schaden uns selbst. Wir sind vom russischen Markt und russischer Energie abhängig“, sagt Vydas Gedvilas von der linkspopulistischen Arbeitspartei, der ihre Gegner vorwerfen, sie hinge am Gängelband russischer Kapitalinteressen. „Wenn man den Nachbarn ständig als Feind bezeichnet, verhält er sich zuletzt auch so.“

Das sieht der konservative Parteichef Andrius Kubilius ganz anders. Er würde von der EU gerne „mehr strategisches Verständnis“ sehen: dass man dort anerkenne, dass Russland ein „ernster Risikofaktor“ sei und sich entsprechend verhalte. „Wir glauben nicht, dass morgen die russischen Panzer kommen. Aber nach Georgien müssen wir uns fragen: Wer ist als nächster dran?“

Litauen ist in der Klemme. „Unsere außenpolitischen und unsere wirtschaftlichen Interessen kommen einander in die Quere“, sagt Laurys Kasciunas vom Zentrum für Osteuropapolitik. Die harte Linie zum Georgien-Krieg macht Moskau wütend und stört viele EU-Partner. „Man hat uns Konservativen immer Russophobie vorgeworfen“, sagt Kubilius, „aber auch wir waren naiv.“ Im Vorjahr habe man ein Parteidokument zu Russland verfasst, „da haben wir eine militärische Aggression ausgeschlossen. Das würden wir so nicht mehr schreiben“, sagt er und malt ein denkbares Szenario aus: „Russische Militärs könnten sagen: Lasst uns die Nato testen – Litauen wäre ein leichtes Ziel.“

Durch Litauen führt eine auch von russischem Militär benützte Transitstrecke nach Kaliningrad. Dort einen Sabotageakt zu begehen, ist einfach. Dann kämen russische Truppen „zum Schutz russischer Interessen“. Das Ziel wäre „nicht der Endsieg, aber zu sehen, wie die Nato reagiert“, malt sich Kubilius aus.

Wenn ein Mann, der in wenigen Wochen Litauens Premierminister sein kann, dies sagt, ist das kein unüberlegtes Geplapper, sondern ernste Sorge. „Wir haben es mit einem Nachbarn mit klarer Strategie und vielen Ressourcen zu tun. Und unsere europäischen Freunde glauben, durch unseren Beitritt zu EU und Nato sei alles eitel Wonne.“

Schließlich habe Russlands Präsident Dmitrij Medwedjew verkündet, dass man „russische Bürger und russische Wirtschaftsinteressen“ schützen wolle, wo immer sie sind. In Lettland und Estland gibt es starke russische Minderheiten, die sich durch die Politik der dortigen Regierungen ausgegrenzt fühlen.

Dass Moskau einen Konflikt mit der Nato riskieren wolle, glauben die wenigsten, wenngleich Radzvilas meint, dass „das Vertrauen, dass der Westen die baltischen Staaten verteidigen würde, durch das Verhalten gegenüber Georgien dramatisch unterminiert wurde.“

Doch Russland kann wieder einmal die Energiekarte politisch ausspielen: Litauen hat keinen anderen Gaslieferanten und wird ab 2009, wenn man das Atomkraftwerk Ignalina dichtmachen soll, davon noch abhängiger sein. Und Vilnius sieht sich einer Moskauer Propagandaoffensive ausgesetzt. Kubilius sagt: „Russland will uns nicht als westlichen Vorposten in Osteuropa haben, sondern als Brückenkopf russischer Interessen in Europa.“

Die Georgien-Krise war ein Schock für die Litauer. Für Virgilius Kalade steht jedenfalls fest, dass „der Eintritt in die Nato das wichtigste Ereignis seit unserer Unabhängigkeit war. Ohne Nato würde jetzt Panik herrschen.“

AUF EINEN BLICK

Litauens Verhältnis zu Russland ist historisch schwer belastet. 1940 marschierte die Rote Armee ein und annektierte das Land. Es kam zu einer ersten Deportationswelle. Nach der Niederringung der deutschen Wehrmacht kam die Sowjetarmee im Herbst 1944 abermals. Danach wurden rund eine halbe Million Litauer in Gulags verschleppt. Litauische Partisanen lieferten den Sowjets bis 1953 einen aussichtslosen Kampf.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.10.2008)

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