Wahl in Tunesien: Pragmatischer Islamist will regieren

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Am Sonntag stimmen die Tunesier über die Zusammensetzung des Parlaments ab. Ennahda-Chef Ghannouchi hofft - in Koalition mit Säkularen - das Land regieren zu können.

Tunis. Keiner tourt so unermüdlich durch das Land wie Rached Ghannouchi. In der Küstenstadt Sfax zog er 15.000 Menschen an, in Sousse füllten seine Zuhörer mehr als einen Kilometer der breiten Hafenpromenade. In Gafsa im Landesinneren drängelten sich 10.000, um den Vorsitzenden von Ennahda zu hören, der tunesischen Muslimbruderschaft. Hier befinden sich die Phosphatgruben Tunesiens, der einstige Exportschlager des Landes. Hier brachen zwei Jahre vor dem Arabischen Frühling die ersten Massenstreiks gegen das Regime von Diktator Zine El Abidine Ben Ali aus, die damals 34 Menschen das Leben kosteten. Heute ist ein Drittel arbeitslos, kein Unternehmen möchte sich hier neu ansiedeln. Feinstaub ist allgegenwärtig. Viele leiden an Krebs, Asthma und Hautallergien.

„Ihr seid eine Festung gewesen im Kampf gegen Tyrannei“, schmeichelt der 73-jährige Wahlkämpfer der Menge. „Tunesien steht für den Traum nach Freiheit und Würde, alle arabischen Länder beneiden uns darum.“ Die Stadt habe einen hohen Preis bezahlt, fügt er hinzu und verspricht: „Wir wollen, dass Gafsa seine Rechte zurückbekommt und teilnimmt an Wohlstand und Entwicklung wie die anderen Regionen!“

Tunesiens Wahlkampf geht in die Schlussphase. Am kommenden Sonntag bestimmen 5,2 Millionen Bürger das erste reguläre Parlament seit dem Arabischen Frühling 2011. Im November folgt dann das Votum für den ersten direkt gewählten demokratischen Präsidenten. Mehr als 13.000 Kandidaten auf 1320 Parteilisten bewerben sich für die 217 Mandate. Das Vorgängerplenum, vor drei Jahren gewählt, war Verfassungsgebende Versammlung und Übergangsparlament zugleich.

Starke Zivilgesellschaft

Ennahda stellte mit 37 Prozent die stärkste Fraktion, regierte zusammen mit den Sozialdemokraten von Ettakatol und den Liberalen der Partei Kongress für die Republik. Im Jänner 2014 trat die Interimsregierung nach Protesten zurück, ausgelöst durch Morde an zwei linken Oppositionspolitikern– wahrscheinlich verübt von militanten Islamisten. Das machte den Weg frei für ein Technokratenkabinett und die Verabschiedung der postrevolutionären Verfassung im Konsens. Dieser Kompromiss wurde möglich, weil das nordafrikanische Land starke Gewerkschaften sowie eine ausgeprägte Zivilgesellschaft hat, die alle Kontrahenten an einen Tisch zwangen. So ist Tunesien, anders als Libyen oder Syrien, nicht in einen Bürgerkrieg abgerutscht oder wie Ägypten per Militärputsch in das alte autoritäre System zurückgekippt.

Anders als Ägyptens mittlerweile gestürzte Muslimbrüder fährt Tunesiens Ennahda unter Ghannouchi einen pragmatischeren Kurs. „Wir haben die Macht damals abgegeben, weil wir sicher sind, dass wir sie wieder bekommen“, sagte er kürzlich. Doch das Terrain ist schwieriger geworden. Umfragen zufolge hat Ennahda an Rückhalt verloren, ebenso wie ihre beiden Ex-Koalitionspartner.

Zugleich ist mit Nidaa Tounes eine neue Partei entstanden, die das Zeug hat, als stärkste Fraktion in die Volksvertretung einzuziehen und den Regierungschef zu stellen. Nidaa Tounes ist ein Sammelbecken säkularer Kräfte, aber auch alter Anhänger des Ben-Ali-Regimes. Geführt wird die Partei vom 87-jährigen Beji Caid Essebsi, der in den ersten neun Monaten des Arabischen Frühlings als Übergangspremier fungierte, aber schon unter Staatsgründer Habib Bourguiba lange Jahre Minister war.

So macht Ghannouchi überraschend erste Avancen in Richtung seines ebenfalls betagten Hauptrivalen. „Tunesien braucht einen Konsens zwischen Islamisten und Säkularen, weil wir auch nach den Wahlen noch keine stabile Demokratie sein werden“, so Ghannouchi. „Wir brauchen eine Regierung der nationalen Einheit.“

Denn auch der nächsten Führung stehen viele unpopuläre Entscheidungen ins Haus. Sie muss Subventionen kürzen, den überdimensionierten Staatsapparat reduzieren und Rezepte gegen die steigende Arbeitslosigkeit finden. Zudem hat sich die Sicherheitslage erheblich verschlechtert. 1500 verdächtige Militante wurden allein in diesem Jahr verhaftet.

Verschlechterte Sicherheitslage

Mit 3000 Jihadisten stellen Tunesier neben den Saudis das größte Ausländerkontingent im „Islamischen Kalifat“. Im Juli kamen nahe der Grenze zu Algerien 14 Soldaten ums Leben, als sie in den Hinterhalt eines Al-Qaida-Kommandos gerieten – der schwerste Terrorakt seit der Unabhängigkeit des Landes 1956. Und so plädiert der umworbene Beji Caid Essebsi auch für einen „möglichst breiten Konsens“, hofft jedoch auf eine rein säkulare Koalition. „Der fundamentale Unterschied zwischen uns und Ennahda ist: Wir befinden uns in einem demokratischen Prozess, während die Islamisten ihre Weisungen einzig von Allah empfangen und nicht vom Volk.“

AUF EINEN BLICK

In Tunesien finden am Sonntag Parlamentswahlen statt. Einer der Favoriten ist Ennahda, die Partei von Rached Ghannouchi. Ennahda ist eine Schwesterpartei der ägyptischen Muslimbruderschaft, hat sich aber stets pragmatischer gegeben. Mächtigste Konkurrentin der Ennahda ist die säkulare Partei Nidaa Tounes, in der auch Anhänger des alten Regimes sitzen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.10.2014)

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