Brasilien: Der Mann, der Dilma Rousseff herausfordert

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Der konservative Präsidentschaftskandidat Aécio Neves entstammt einer traditionsreichen Politikerdynastie. Der Kampf zwischen ihm und Präsidentin Dilma Rousseff ist aber alles andere als ritterlich.

São Paulo. „Willkommen zu einer neuen Art, Politik zu betreiben“, heißt es auf einem Plakat im Wahlkampfbüro von Aécio Neves. Der Herausforderer der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff hat im trendigen Stadtteil Brooklin in São Paulo zu einer Pressekonferenz geladen, und zumindest seine Art, Journalisten zu empfangen, ist tatsächlich unkonventionell. Keine Anmeldung, keine Ausweiskontrolle, kein prüfender Blick in Taschen und Rucksäcke. Warten auf einer mit Wellblech bedeckten Terrasse, stehend und in drückender Schwüle – warten auf den Mann, der geschafft hat, was seit dem Ende der Militärdiktatur im Jahre 1985 noch nie jemandem gelungen ist.

Vor ein paar Wochen lag der gemäßigt konservative Neves in den Umfragen 20 Prozentpunkte hinter Rousseff und der grünen Ex-Umweltministerin Marina Silva. Analysten und Journalisten gaben ihn verloren, wichtige Exponenten seiner Partei der brasilianischen Sozialdemokratie (PSDB) rückten von ihm ab. Politstrategen rieten ihm, seine Kandidatur zurückzuziehen. Doch der 54-jährige ehemalige Gouverneur des Bundesstaates Minas Gerais legte einen beeindruckenden Zwischenspurt hin. Teilweise gelang es ihm aus eigener Kraft, teilweise begünstigte ihn der Umstand, dass die Präsidentin und deren Arbeiterpartei PT in zahllosen giftspeienden Werbespots die Chancen der damals noch zweitplatzierten Silva zersetzten. Am 5. Oktober dann die große Überraschung: Rousseff erreicht im ersten Wahlgang 42 Prozent, Neves liegt nur acht Prozent hinter ihr. Noch nie war der seit 2003 regierende PT, die größte, lauteste Machtmaschinerie Südamerikas, derart in Bedrängnis.

Aécio Neves entstammt einer traditionsreichen brasilianischen Politdynastie, seine Familie besitzt Ländereien, Gehöfte, Radiosender. Mit 23 Jahren wurde er Privatsekretär seines Großvaters Tancredo Neves, der kurz zuvor das Amt als Gouverneur von Minas Gerais angetreten hat. Die Propagandisten vom PT setzen die Biografie ihres Gegners als Waffe ein. Der Schnösel Neves habe Privatschulen in Rio de Janeiro besucht und sich nächtens in Diskotheken vergnügt, während die damalige Guerillera Dilma Rousseff als Kämpferin gegen die Militärdiktatur gefoltert wurde. Neves habe sich ans Hosenbein seines Großvaters geklammert, um Politiker zu werden.

„Rousseff in Panik“

Vielleicht präsentiert er sich heute gegenüber der Presse so unprätentiös, um seine „edle“ Abstammung in den Hintergrund zu drängen. Der eher klein gewachsene Kandidat trägt schwarze Jeans, weißes Hemd und abgetragene Schuhe. Das routiniert aufblitzende Lachen, der sonnengebräunte Teint, die graumelierten Haare lassen einen für Sekundenbruchteile an einen alternden Strandgigolo aus Rimini denken, aber als Neves zu sprechen beginnt, hört man sofort den Politiker. Das brasilianische Schulsystem sei katastrophal und müsse reformiert werden. Das Gesundheitssystem ebenso. Er habe als Gouverneur von Minas Gerais gezeigt, was effizientes, transparentes Regieren sei. Der Tonfall desjenigen, der tausendfach Wiederholtes zum tausendundersten Mal vorträgt, ändert sich erst, als er auf die Präsidentin zu sprechen kommt: „Jeden Tag verbreitet sie neue Lügen, jeder ihrer Sätze ist eine Verleumdung. Dilma Rousseff ist in Panik, weil sie weiß, dass sie bald arbeitslos sein wird. Ihre Schmutzkampagne ist eine Schande für unsere Demokratie.“

Seit mehr als 20 Jahren hat Brasilien keinen derart spannenden, aggressiven Wahlkampf mehr erlebt: Rousseff und Neves liegen Kopf an Kopf. Das Land ist gespalten. Doch noch sind die Gegensätze laut dem in Brasilia lehrenden US-Politologen David Fleischer nicht derart ausgeprägt, dass sie den nationalen Zusammenhalt oder die demokratische Stabilität bedrohen würden. Und dennoch: Unternehmer, Investoren, die Mehrheit der Mittel- und Oberschicht, die Industrie- und Finanzmetropole São Paulo sowie die vorwiegend von Weißen bewohnten Bundesstaaten des Südostens stehen stramm hinter Neves. Die Armen und die der Armut entflohene untere Mittelschicht, linke Künstler und Intellektuelle, der mehrheitlich von Nachfahren afrikanischer Sklaven bewohnte Nordosten unterstützen die Präsidentin.

Immer häufiger Schlägereien

Neves- und Rousseff-Anhänger beschimpfen einander in sozialen Netzwerken, und dabei zerbrechen nicht nur Facebook-Freundschaften. Immer häufiger berichten die Medien von Schlägereien. Dabei liegen die sozial- und wirtschaftspolitischen Positionen der Kandidaten nicht weit auseinander, stehen doch beide für ein demokratisches, marktwirtschaftliches Modell mit einem relativ stark umverteilenden Sozialstaat.

Neves verspricht, von Rousseffs interventionistischer, auf Preiskontrollen, Subventionen und protektionistischen Maßnahmen basierenden Wirtschaftspolitik abzurücken und einen liberaleren Kurs einzuschlagen. Er will die überfälligen Strukturreformen in den Bereichen Bildung, öffentlicher Verkehr, Gesundheit, Bürokratie anpacken. Seine Regierung werde das Wirtschaftswachstum, das unter Rousseff im Durchschnitt weniger als zwei Prozent jährlich betrug, wieder beschleunigen.

Im Unterschied zu Marina Silva, die die Schmähungen aus dem Regierungslager in Schockstarre versetzt haben, schlägt Neves auf demselben tiefen Niveau zurück. Die beiden Kontrahenten bezichtigen sich gegenseitig des Nepotismus, der Begünstigung von Korruption, der Unredlichkeit und Inkompetenz. Darüber hinaus behauptet Rousseff, ihr Herausforderer wolle die populären Sozialprogramme auf dem Altar neoliberalen Sparwahns opfern. Neves bestreitet dies und unterstreicht, was den Armen schade, seien das schleppende Wirtschaftswachstum und die Inflation von nahezu sieben Prozent. Außerdem habe er in Minas Gerais gezeigt, wie volksnah er sei.

Gute Nachrede und Gerüchte

Als Neves sein Gouverneursmandat 2010 abgab, beurteilten 92 Prozent der Bevölkerung seine Leistungen als gut. Es gibt aber auch Flecken: einen Flughafen, erbaut auf dem Grundstück seines Onkels. Vor drei Jahren verweigerte Neves bei einer Polizeikontrolle in Rio de Janeiro den Alkotest. Es geht das Gerücht um, er konsumiere Kokain. Dass es der PT bisher nicht ausgeschlachtet hat, kann nur am Fehlen stichhaltiger Beweise liegen. Aber noch ist der Wahlkampf nicht zu Ende.

Angesichts der lahmenden Wirtschaft, eines Korruptionsskandals beim staatlichen Energiekonzern Petrobras, des Wunsches nach Veränderung und der Unterstützung durch Marina Silva müsste Neves in den Umfragen eigentlich deutlicher führen. Sein Aufstieg scheint vorerst gestoppt. Erklärungen dafür liefern die Dankbarkeit der Unterschicht für die unter der PT-Regierung geförderten Sozialprogramme; die Negativkampagne seiner Gegner sowie die zahlreichen Wahlkampfauftritte, die der populäre Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva zugunsten seiner Nachfolgerin Roussseff absolviert.

Kaum Symbol für Erneuerung

Vielleicht liegt es auch daran, dass Neves als Vertreter des Establishments und als Exponent des PSDB, der von 1995 bis 2003 mit Fernando Henrique Cardoso den Präsidenten stellte, nur bedingt als Symbolfigur für Erneuerung taugt. Es klingt deshalb eher beschwörend, wenn er am Ende der Pressekonferenz sagt: „Bei diesen Wahlen geht es um mehr als einen simplen Sieg. Es geht darum, dieses Land von der Herrschaft des PT zu befreien.“

AUF EINEN BLICK

Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff tritt am Sonntag in der Stichwahl gegen den Konservativen Aécio Neves an. Am 5. Oktober hat sie im ersten Wahlgang 42 Prozent erreicht. Neves war die große Überraschung: Er kam auf 34 Prozent und hängte damit Marina Silva ab. In Umfragen liegt Neves nun Kopf an Kopf mit der Präsidentin. Der Wahlkampf wird ausgesprochen aggressiv geführt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.10.2014)

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