Kanadas 90 Sekunden Horror

CANADA OTTAWA SHOOTING AFTERMATH
CANADA OTTAWA SHOOTING AFTERMATH(c) APA/EPA/COLE BURSTON (COLE BURSTON)
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Anschlag in Ottawa. Ein Video zeigt die unglaublich rasche Abfolge der Ereignisse vom Attentat am Kriegsdenkmal bis zur Erstürmung des Parlaments.

OTTAWA. Das Bild wird immer klarer – und schockierender: Michael Zehaf-Bibeau benötigte nur rund 90 Sekunden, um vom Kriegsdenkmal, bei dem er einen Soldaten erschossen hatte, zum kanadischen Parlament zu gelangen, in dem er dann im Kugelhagel ums Leben kam. Das Video, das die Polizei jetzt veröffentlicht hat, zeigt den dramatischen Ablauf der Ereignisse.
Es lässt Betrachter erschaudern. Es wurde von Kameras aufgenommen, die auf den Dächern der Parlamentsgebäude installiert sind. Es sind Sekunden, die in die Geschichte des Landes und das kollektive Gedächtnis eingehen werden: Gegen 9.52 Uhr erschießt der 32-Jährige hinterrücks den 24-jährigen Wachsoldaten Nathan Cirillo. Mit einem Auto fährt er die wenigen Meter zu einer Parlamentsauffahrt, die durch im Boden versenkbare Poller gesichert ist. Er springt mit einem Winchester-Gewehr aus dem Wagen. Passanten rennen in Panik davon. Zehaf-Bibeau kapert einen geparkten Ministerwagen, rast zum Haupteingang des Parlaments und rennt auf die Eingangstür zu.

„Zu diesem Zeitpunkt bemerkten Beamte der Bundespolizei seine Aktionen“, berichtet deren Chef Bob Paulson. Mounties in Wagen und zu Fuß folgen ihm. Schon vor dem Parlament feuert die Polizei auf den 32-Jährigen. Dieser rennt ins Gebäude, wird von einem Wachhabenden gestoppt, der dabei einen Schuss in den Fuß erleidet, und rennt weiter. Glücklicherweise, so stellt sich nun heraus, rennt er an den beiden Sälen vorbei, in denen sich die konservative Regierungsfraktion mit Premierminister Stephen Harper und die Opposition versammelt haben. Kurz vor dem Eingang in die Bibliothek des Parlaments fallen dann die tödlichen Schüsse, die Zehaf-Bibeau niederstrecken. Auf genau 83 Sekunden reduzieren sich die dramatischen Ereignisse vor dem Parlamentsgelände, dann dauert es nur wenige Sekunden, bis Zehaf-Bibeau im Parlament erschossen wird.

Über die Person des Attentäters wurden nun weitere Details bekannt. Er ist der Sohn eines libyschen Vaters und einer kanadischen Mutter, geboren am 16. Oktober 1982 in Montreal. Er besuchte eine private französischsprachige Schule. Seine Probleme begannen etwa 2004, er kam mehrmals mit dem Gesetz in Konflikt, zog nach Westkanada. Seine Bindung an die Familie brach weitgehend ab. Er wurde zu einem überzeugten Moslem und geriet auf einen Pfad der Radikalisierung, wie die Polizei berichtete. Er hatte sogar Probleme mit seiner Moschee in Burnaby, deren offene, tolerante Einstellung gegenüber Andersgläubigen er offenbar nicht akzeptierte.

Wie kam er zu der Waffe?

Die Motive für seine Tat aber liegen weiter im Dunklen, auch stellt sich weiter die Frage, wie weit seine Radikalisierung ging. Vor etwa zwei Wochen traf er in Ottawa ein, lebte in einem Obdachlosenheim und traf seine Mutter, erstmals seit fünf Jahren. Er beantragte einen Pass, denn er wollte nach Syrien reisen, wie Susan Bibeau später berichtete. Das Passverfahren war noch nicht abgeschlossen. Zehaf-Bibeau war nicht auf der Liste der rund 90 Personen, die als radikalisiert gelten und von der Polizei beobachtet werden. Er habe noch kein klares Bild über die Motive für die Tat, „aber der Pass war ein Teil seiner Motivation“, sagte der Bundespolizeichef. Die Beamten fanden ein E-Mail Zehaf-Bibeaus auch im Computer einer Person, die wegen eines Antiterrordelikts angeklagt wurde.

Doch es bleiben Fragen offen: Wie kam Zehaf-Bibeau, der weitgehend mittellos war, zu dem Auto, mit dem er zum Kriegsdenkmal fuhr? Wie kam er in den Besitz der Waffe? Dem geht die Polizei nun nach. Trotz der Einmütigkeit der Parteien, sich nicht einschüchtern zu lassen, werden Unterschiede deutlich: Premier Harper sprach mehrmals von einem Terrorakt und Terrorismus. Die Opposition charakterisierte die Ereignisse stärker als Aktion eines Kriminellen, die nicht bestimmen dürften, wie das Rechtssystem dieses Landes aussehe.

Polizei fordert mehr Befugnisse

Bei den anstehenden Beratungen über neue Gesetze wird es zunächst darum gehen, ob die Polizei zusätzliche Vollmachten für den Umgang mit radikalisierten Personen erhalten wird, die sie beobachtet. Radikales Gedankengut, verbreitet auf Facebook oder Twitter, kann die Grundlage für Beobachtungen durch Sicherheitsorgane und die Verweigerung eines Passes sein, ermöglicht aber nicht sehr viele weitergehende Maßnahmen. Die Polizei fordert bereits mehr Befugnisse, um vorbeugend tätig werden zu können. Justizminister Peter MacKay spricht davon, dass die Regierung die „richtige Balance zwischen Bürgerrechten und nationaler Sicherheit“ finden wolle. Bürgerrechtsorganisationen und Opposition werden dies genau beobachten.

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