Griechenland: Anarchisten setzten Athen in Brand

(c) Reuters (John Kolesidis)
  • Drucken

Tausende demonstrierten gegen die tödlichen Polizei-Schüsse auf einen 15-Jährigen. In Wohnvierteln in Athen und der zweit größten Stadt Thessaloniki bieten sich bürgerkriegs-ähnliche Bilder.

Wien/Athen (red/ag). „Mörder, Mörder“, skandierten tausende Demonstranten, als sie am Wochenende durch die griechische Hauptstadt Athen zogen. Viele warfen Steine und Molotow-Cocktails. Polizisten gingen mit Tränengas gegen die Menschenmasse vor. Jugendliche hatten sich in der Polytechnischen Universität verbarrikadiert – die Polizei darf das Gebäude laut Gesetz nicht betreten. „Es ist wie im Krieg“, berichtete eine Anrainerin im Radio.

Seit Samstag befindet sich Griechenland im Ausnahmezustand. In Wohnvierteln in Athen und der zweitgrößten Stadt Thessaloniki bieten sich bürgerkriegsähnliche Bilder: Ausgebrannte Autowracks säumen die Straßen. Bankfilialen, Geschäftslokale und Privathäuser wurden zerstört. Über den Städten liegt Rauch, Bewohner klagen über Atembeschwerden. 40 Menschen wurden verletzt, noch mehr festgenommen. Auch auf der Ferieninsel Kreta und in der Hafenstadt Patros standen sich Polizei und Randalierer gegenüber. Schon jetzt ist die Rede von den schwersten Ausschreitungen seit 25 Jahren.

Ihren Ausgang nahmen die Straßenschlachten am Samstagabend im Athener Stadtteil Exarchia – nach dem gewaltsamen Tod eines 15-jährigen Schülers. Ein Polizist hatte den Jugendlichen erschossen, weil dieser gemeinsam mit 30 weiteren Personen einen Streifenwagen mit Steinen beworfen haben soll. Die Beamten hätten daraufhin eine Blendgranate geworfen und Warnschüsse abgegeben. Ein Querschläger soll den 15-Jährigen schließlich in den Brustkorb getroffen haben. Er verstarb noch im Krankenwagen.

Video soll Mord beweisen

So die offizielle Version – Berichte von Augenzeugen ergeben ein anderes Bild: Zwischen den Jugendlichen und den Beamten sei nur ein heftiges Wortgefecht entstanden, behauptet etwa ein Mann im Radio. Dann habe der Polizist gezielt auf den 15-Jährigen geschossen. „Es war Mord“, sagen auch andere Augenzeugen. Wenig später tauchte auf der Interntetplattform YouTube ein verwackeltes Amateurvideo auf, dass die Tat beweisen soll. Zu erkennen ist darauf nichts. Viele Griechen glauben dennoch lieber den Aussagen der Augenzeugen. Auf offizielle Statements des Innenministeriums geben sie wenig. Dieses hat nun die rasche Aufklärung des Falls angekündigt.

Dass es in Exarchia zu dem Zwischenfall gekommen ist, verwundert nicht: Das Stadtviertel gilt als Hochburg der sogenannten autonomen Szene Griechenlands. Konflikte mit der Polizei stehen auf der Tagesordnung. Ein Todesopfer jedoch forderten sie zuletzt vor 25 Jahren: Auch Michalis Kaltezas starb damals durch eine Kugel aus einer Polizeiwaffe, auch er war 15 Jahre alt. Seither ist er der Märtyrer gewaltbereiter Gruppen, die sich selbst „Anarchisten“ nennen.

Aktiv ist die linksradikale Szene in Griechenland seit den 60er-Jahren: 1973 nahm auch der Aufstand gegen die regierende Militärjunta den Anfang in Exarchia. In dieser Tradition sehen sich die Autonomen, die bis heute die Innenstadt unsicher machen. Ein politischer Hintergrund lässt sich nicht mehr erkennen: Die Gewalt ist zum Selbstzweck geworden. Viele Autonome stammen aus gut situierten Familien. Wie auch der 15-Jährige, der am Samstag starb: Seine Eltern besitzen einen Juwelierladen.

Am Montag hat sich die Lage vorerst beruhigt, autonome Gruppen haben aber neue Demonstrationen angekündigt. Auch für die konservative Regierung von Premier Kostas Karamanlis dürften die Ereignisse nicht ohne Folgen bleiben: Diese ist nach einer Serie von Skandalen ohnehin schwer angeschlagen, in Umfragen hat die Opposition die Mehrheit. Politische Beobachter wollen jetzt vorgezogene Neuwahlen im Jahr 2009 nicht mehr ausschließen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.12.2008)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.