Washington: Amerikas Hauptstadt der Gegensätze

A tour bus passes the United States Federal Reserve Board building in Washington
A tour bus passes the United States Federal Reserve Board building in Washington(c) Reuters (GARY CAMERON)
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Der Großraum Washington ist die reichste Region der USA. Dennoch ist jeder fünfte Einwohner in der Stadt arm. Daran wird auch die neue Bürgermeisterin wenig ändern können.

Was früher Crack-Kokain war, ist heute Caffè Latte: Entlang der 14th Street und der U Street im Nordwesten von Washington D. C. schießen die schicken Kaffeebars wie Schwammerln aus dem Boden. Hier, nur rund zwei Kilometer vom Weißen Haus entfernt, war in den 1980er- und 1990er-Jahren das Epizentrum einer der gewalttätigsten Drogenszenen, die jemals in einer amerikanischen Stadt wurzeln konnte. Der Tiefpunkt wurde am 18. Jänner 1990 erreicht, als Bürgermeister Marion Barry, einst enger Vertrauter von Martin Luther King jr., im Rahmen einer verdeckten FBI-Operation beim Rauchen einer Crackpfeife erwischt wurde.

Solche Eskapaden muss man von Washingtons nächster Bürgermeisterin nicht befürchten. Die 42-jährige Muriel Bowser, die am kommenden Dienstag mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Bürgermeisterwahl gewinnen wird, ist eine brave demokratische Parteisoldatin, die nach dem Studium der Geschichte und Politikwissenschaften sofort in die Berufspolitik eingestiegen ist. In der jüngsten Umfrage lag sie 17 Prozentpunkte vor dem als Unabhängigen antretenden früheren Republikaner David Catania. Der 46-jährige, erste homosexuelle Stadtrat Washingtons wird zwar als sachkundiger Reformer geschätzt. Gegen die politische Maschine der Demokraten, die sich auf Gewerkschaftsfunktionäre und schwarze Gemeindefürsprecher stützen kann, hat er aber keine Chance.


US-weit größte Ungleichheit. Bowser wird sich, so sie die Wahl am 4. November gewinnt, der immer tieferen und breiteren sozialen Kluft annehmen müssen. Washington – genauer: der rund 5,9 Millionen Einwohner umfassende Großraum samt den angrenzenden Bezirken in Maryland und Virginia – ist heute die Region in den USA mit der größten sozialen Ungleichheit, heißt es in einer im Mai veröffentlichten gemeinsamen Studie des DC Fiscal Policy Institute, des Commonwealth Institute und des Center of Economic Policy, dreier führender regionaler Forschungseinrichtungen.

„Greater Washington“ ist die reichste Großregion der Vereinigten Staaten. Sechs der zehn Bezirken mit den höchsten Medianeinkommen pro Haushalt befinden sich hier. In Gemeinden wie Potomac (Medianeinkommen: 173.289 Dollar pro Jahr) oder Bethesda (83,7 Prozent Akademikerquote bei den über 25-Jährigen) hat sich über die Jahre hinweg ein Reichtum angehäuft, dessen Ursprung die öffentliche Hand war. Die Bundesregierung mit ihren Ministerien und Agenturen in und um Washington ist der mit Abstand größte Arbeitgeber der Region. In der Stadt stehen 27,7 Prozent aller Arbeitnehmer im Sold der Regierung, in der gesamten Region sind es 12,1 Prozent.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 hat die enorme Militarisierung der USA unter George W. Bush ein Universum an Beratern, externen Zulieferern und sonstigen Profiteuren geschaffen. Dazu kommen mehrere große Krankenhäuser, Forschungseinrichtungen sowie die wachsenden Schulsysteme von Virginia und Maryland, die monatlich mehr als 1000 Zuwanderer nach Washington locken.

Genau das hat die Ungleichheit vertieft. Wer nicht mehr als einen Pflichtschulabschluss hat, verdient heute inflationsbereinigt um 80 Cent pro Stunde weniger als vor der Krise; US-weit beträgt dieser Einkommensrückgang für schlecht Ausgebildete 51 Cent. Akademiker im Großraum Washington haben die Krise dagegen blendend überstanden. Sie verdienen heute real um 2,78 Dollar pro Stunde beziehungsweise neun Prozent mehr als vor dem Krach: der höchste Anstieg in den USA.


Schatten der Rassentrennung. Mit der Bildung steht und fällt also alles; wer nichts weiß und wer nichts kann, auf den tröpfelt der neue Reichtum nicht herunter. Jeder fünfte Washingtoner und 26 Prozent der Schwarzen sind arm; daran hat der Boom der jüngsten Vergangenheit nichts geändert.

„Das Schulwesen ist heute ein Jammer. Zu meiner Zeit fühlten die Lehrer eine Berufung. Heute sehen sie ihre Tätigkeit nur mehr als sicheren Posten“, ärgert sich Toni-Michelle Travis, Politikprofessorin an der George Mason University in Virginia und gebürtige Washingtonerin, Das sei Ergebnis eines fatalen Zusammenspiels der Rassentrennung und ihrer schlecht begleiteten Beendigung in den 1950er-Jahren, sagt sie im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“.

Als Washingtons schwarze und weiße Kinder noch in getrennte Schulen gehen mussten, blieben selbst den begabtesten Schwarzen die meisten akademischen Karrieren verwehrt. So wurden viele von ihnen Lehrer.

Nach Ende der Rassentrennung setzte die „weiße Flucht“ ein. Viele weiße Washingtoner zogen aus Abneigung dagegen, dass ihre Kinder schwarze Sitznachbarn bekamen, in die Vororte. Zugleich kamen schon seit Jahrzehnten viele arme, ungebildete Schwarze aus dem Süden nach Washington. Ihre Kinder hätten nun besonders fürsorgliche schulische Betreuung gebraucht, sagt Travis. Doch die US-Kongressabgeordneten, die Washington damals noch wie eine Kolonie verwalteten (Bürgermeister wählt man hier erst seit 1974), waren mehrheitlich Anhänger der Rassentrennung. Sie verweigerten der Stadt höhere Bildungsbudgets. Gleichzeitig nutzten die talentiertesten jungen Schwarzen nach dem Ende der Segregation die Möglichkeit, andere Studien zu verfolgen. „Die Besten und Klügsten mussten fortan nicht mehr Schullehrer werden“, erklärt Travis. Opfer dieser geistigen Verarmung und Unterfinanzierung sind heute noch die Kinder in Anacostia, dem fast ausschließlich schwarzen, armen und gewalttätigen Südosten der Stadt.

Travis hat wenig Hoffnung, dass sich das bald ändert. Den Einwohnern Washingtons ist die Kandidatur für die höchsten Ämter im Staat schließlich verwehrt. Wer also das Kapitol oder das Weiße Haus im Visier hat, lässt sich hier nicht nieder. „D. C. ist eine politische Sackgasse“, seufzt Travis. „Es ist eigentlich ziemlich unsinnig, hier Bürgermeister werden zu wollen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.11.2014)

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