Ukraine: Selbstzerfleischung am Rande des Abgrunds

(c) Reuters (Konstantin Chernichkin)
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Trotz der katastrophalen Wirtschaftslage lassen die Machthaber in Kiew ihren Konflikt eskalieren. Putin drohte mit Stop der Gaslieferungen, wenn die Schulden nicht bald beglichen werden

MOSKAU/KIEW.Dass maskierte Spezialeinheiten des Geheimdienstes einen Großkonzern stürmen, ist eher eine russische Spezialität. Offenbar aber will die Ukraine, die tunlichst nicht mehr mit ihrem großen Nachbarn im Osten verglichen werden will, den Russen in nichts nachstehen.

Als am Mittwoch bewaffnete Männer in den nationalen Öl- und Gaskonzern „Naftogaz Ukrainy“ in Kiew eindrangen, dachten die Büroangestellten zuerst an einen kriminellen Überfall. Am Donnerstag kamen die „Eindringlinge“ dann schon unmaskiert. Es gehe lediglich um einen Ermittlungseinsatz, verlautete es aus dem Geheimdienst, der Staatspräsident Viktor Juschtschenko nahe steht.

Weil Manager angeblich 6,3 Milliarden Kubikmeter Gas (entspricht zwei Drittel des österreichischen Jahresverbrauchs) unterschlagen haben sollen, wird seit Wochenbeginn ermittelt; letztlich gegen das Umfeld von Premierministerin Julia Timoschenko, die bei Naftogaz das Sagen hat. Schon kursieren Vermutungen, dass sie selbst verhaftet werden könnte.

Russlands Premier Wladimir Putin drohte der Ukraine am Donnerstag: Wenn sie ihre Gasschulden für Februar in Höhe von 360 Millionen Dollar bis Samstag nicht begleiche, werde der Gashahn wieder wie zu Jahresbeginn zugedreht. Die Drohung zeigte Wirkung. Am Donnerstagabend hieß es in Moskau, die Gasrechnung für Februar sei überwiesen worden.

Gegenseitige Verdächtigungen

Der neue Konflikt ist kein russisch-ukrainischer. In der Ukraine selbst fliegen die Fetzen. Vor dem Hintergrund einer katastrophalen Wirtschaftslage beginnt die Langzeitfehde innerhalb des orangen Lagers offen zu eskalieren. Die Bruchstelle verläuft zwischen Juschtschenko und Timoschenko. Im Unterschied zum Staatschef hat die Premierministerin alle Chancen, 2010 die Präsidentschaftswahlen zu gewinnen. Auch hat sie den Gaskonflikt mit Russland im Jänner eigenmächtig geregelt und den zweifelhaften Zwischenhändler RosUkrEnergo dabei aus dem Geschäft gedrängt.

Juschtschenko wiederum verdächtigt seine einstige Mitstreiterin, dass sie mit Moskau geheime Zusatzprotokolle unterzeichnet habe. Timoschenko beschuldigt ihn nun, die Geheimdienstrazzia in Auftrag gegeben zu haben, weil Juschtschenko auf der Seite von RosUkrEnergo stehe und angeblich auch mitschneidet. Juschtschenko sei wild „wie ein verwundetes Tier“, heißt es aus dem Timoschenko-Lager.

Der Hintergrund: Diese Woche gab Timoschenkos Fraktion im Parlament die entscheidenden Stimmen dafür her, um Außenminister Wolodymyr Ogrysko abzusetzen. Ogrysko, einst Botschafter in Wien, war Juschtschenkos Mann und agierte in dem von Timoschenko autoritär geführten Kabinett auffällig selbstständig.

Streit auch mit dem IWF

Timoschenko hat diese Woche vorgezogene Wahlen gefordert, auch ihr läuft die Zeit davon. Die Wirtschaft wandelt am Rande des Abgrunds. Die Devisenreserven schwinden, die Währung verlor 40 Prozent ihres Wertes, der für das Land entscheidende Stahlpreis ist eingebrochen. Ohne Geld vom Internationalen Währungsfonds ist die Kurve nicht zu kratzen.

Weil aber Timoschenko im Unterschied zu Juschtschenko und entgegen der Abmachung mit dem IWF die Budgetausgaben nicht kürzen will, hat man sich zwischenzeitlich mit dem IWF zerstritten. Nun laufen die Gespräche wieder, sodass beizeiten die zweite Tranche des zugesagten 16-Milliarden-Dollar-Kredits folgen könnte.

Dort, wo in Kiew vor vier Jahren die Orange Revolution stattgefunden hat, schwellen die Demonstrationen inzwischen wieder an. Hauptlosung: „Gegen alle!“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.03.2009)

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