Terrorgefahr: Europa fürchtet sich vor Schläferzellen

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Bereits vor Monaten haben Islamisten mit Anschlägen in Europa gedroht. Die Regierungen sind in Alarmbereitschaft.

Wien. Vergangenen September kursierte eine Audioaufnahme im Internet, und die Nachricht, die damit übermittelt wurde, könnte klarer nicht sein: „Rüstet ihre Straßen mit Sprengmaterial auf. Überfallt ihre Häuser. Schneidet ihre Köpfe ab. Lasst nicht zu, dass sie sich sicher fühlen.“ Der Mann, der die Hassrede hält, ist ein mutmaßliches Mitglied des Islamischen Staates (IS). In seiner Botschaft ruft er die Jihadisten dazu auf, Anschläge in den westlichen Ländern zu verüben – insbesondere in den USA und ihren Verbündeten Australien und Frankreich.

Mitte Dezember stürmte ein Islamist ein Café in der australischen Stadt Sydney – bei der Geiselnahme starben er und zwei Besucher. Am gestrigen Mittwoch wurde die Redaktion des französischen Satiremagazins „Charlie Hébdo“ gestürmt – zwölf Tote. Der Verdacht richtete sich gegen zwei Organisationen: den IS und al-Qaida.

Die IS-Jihadisten machen kein Hehl daraus, Ziele außerhalb des von ihnen ausgerufenen Kalifats anzugreifen. Viele europäische Regierungen sind seit Monaten alarmiert, vergangenen Juni warnten der britische Premier, David Cameron, und das deutsche Innenministerium vor Anschlägen in Europa – ausgeführt von Rückkehrern aus Syrien und dem Irak. Einen Monat zuvor hatte ein mutmaßlicher Islamist und Syrien-Rückkehrer das jüdische Museum in Brüssel gestürmt und vier Menschen getötet. Großbritannien hat Ende August die zweithöchste Terrorwarnstufe ausgerufen, aber auch ein Land wie Norwegen befindet sich in höchster Terror-Alarmbereitschaft aller Zeiten.

Frankreich führt Statistik an

Wie viele Menschen aus Europa in den Irak oder nach Syrien gegangen sind, um dort auf der Seite der Jihadisten zu kämpfen – darüber gibt es nur Schätzungen. Die österreichischen Behörden, wie auch jene anderer europäischen Länder, gehen von rund 3000 Kämpfern aus. Diese Zahl stehe aber schon seit einigen Monaten im Raum und könne inzwischen veraltet sein, sagt Mark Singleton, Direktor des International Centre for Counter-Terrorism in Den Haag im Gespräch mit der „Presse“. Frankreich führt mit geschätzten 1100 plus die Statistik an, Großbritannien geht von mindestens 500 aus, Deutschland ebenfalls von über 500. Pro Kopf betrachtet belegen Belgien (300) und Dänemark (100) die zweifelhaften Spitzenplätze.

Viele europäische Länder haben Maßnahmen gesetzt, um IS-Anhänger an der Ausreise in den Nahen Osten zu hindern – ein Ansatz, der aber auch die Terrorgefahr in Europa erhöhen könnte, sagt Singleton und verweist auf Fälle in Australien und Kanada: Dort hätten Personen, deren Reisepässe zurückgehalten wurden, terroristische Aktionen in ihrem Heimatland geplant. Singleton: „Jeder politische Schritt kann unbeabsichtigte Folgen haben.“ Zu den Rückkehrern meint Singleton, dass es bisher wenige konkrete Anhaltspunkte gebe, dass diese wirklich eine ernsthafte Bedrohung darstellen. Erfahrungen aus der Vergangenheit, etwa von Rückkehrern aus den Kriegen in Bosnien und Afghanistan, hätten gezeigt, dass sich acht bis elf Prozent an terroristischen Aktionen beteiligt haben könnten.

Auch in Österreich ist mit einer Terrorgefahr zu rechnen, wenn es nach den Sicherheitsbehörden geht. Fest steht jedenfalls, dass 150 bis 160 Extremisten aus Österreich nach Syrien gegangen sind bzw. gehen wollten. Etwa 60 von ihnen sind wieder zurückgekehrt, insgesamt wird gegen rund 100 mutmaßliche Jihadisten ermittelt. Aus dem Innenministerium hieß es am Mittwoch, dass nach dem Attentat in Paris Kontakt zu den französischen Sicherheitsbehörden aufgenommen wurde. Sobald die Hintergründe in Paris geklärt seien, werde man auch hierzulande Maßnahmen erwägen.


Sieben Familien in Österreich betreut

Eine Maßnahme wurde bereits Anfang Dezember gesetzt, als die im Familienministerium angesiedelte Beratungsstelle Extremismus lanciert wurde. Von den rund 80 Anrufern bisher waren etwa 20 Familien persönlich betroffen, sagt die Leiterin der Beratungsstelle, Verena Fabris. Die meisten von ihnen berichten, dass ihre Kinder zum Islam konvertiert seien, manche würden sich allgemeine Informationen zur Religion holen wollen, andere wiederum würden erzählen, dass ihre minderjährige Tochter einen Muslim geheiratet habe und weggezogen sei. Durch die Kontakte in der Beratungsstelle werden nun sieben Familien persönlich betreut – eine gute Bilanz, wie Fabris meint.

Laut Angaben der Islamisten befinden sich in Europa und in den USA mehrere Schläferzellen, die nur auf Befehle für Anschläge warten. In Gesprächen mit der Nachrichtenagentur Reuters gaben IS-Mitglieder im Sommer an, der „Kalif“ Abu Bakr al-Baghdadi halte Überraschungen für den Westen bereit. „Amerika schickt seine Raketen, und wir schicken unsere Bomben.“ Doch intakt ist auch noch ein anderes Terrornetzwerk: die al-Qaida. Einer Augenzeugin zufolge hätten die Täter in Paris behauptet, al-Zawahris Gruppe anzugehören.

Auf einen Blick

Extremismus. Schätzungen zufolge haben sich rund 3000 Personen aus Europa den Jihadisten in Syrien und im Irak angeschlossen. Die Zahl könnte aber auch höher liegen. Aus Österreich sind es zwischen 150 und 160. Rund 60 von ihnen sind wieder zurückgekehrt, knapp 30 sollen dort ums Leben gekommen sein. Gegen rund 100 Extremisten wird in Österreich ermittelt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.01.2015)

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