"Charlie Hebdo": Chronologie eines Massakers

Die zwei Attentäter und das Fahrzeug, mit dem sie vor dem Redaktionsgebäude von
Die zwei Attentäter und das Fahrzeug, mit dem sie vor dem Redaktionsgebäude von "Charlie Hebdo" vorfuhren.(c) REUTERS
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Der blutige Überfall auf die Pariser Satirezeitung „Charlie Hebdo“ war generalstabsmäßig geplant: Der vollständige Überblick über das Attentat und die Geiselnahmen in und um Paris.

Mittwoch 7. Jänner 2015

ca. 11:15 Uhr Zwei vermummte und schwarz gekleidete Personen fragen eine Briefträgerin in einem Haus im elften Pariser Stadtbezirk im Zentrum der Stadt nach dem Eingang zur Redaktion der Satirezeitung „Charlie Hebdo“ in der Rue Nicolas-Appert. Die Frau verweist sie auf das übernächste Gebäude. Nach zwei Schüssen zur Abschreckung verlassen sie das Haus.

11:20 Uhr In perfektem Französisch bedrohen die Attentäter eine Zeichnerin der Zeitung. Corinne „Coco“ Rey, die ihre Tochter zuvor vom Hort abgeholt hatte, gibt den Türcode ein und verschafft den Tätern Zugang zum Haus und der Redaktion. Die beiden wissen offenbar gut über den Redaktionsalltag Bescheid: Mittwochs bei der Konferenz um 10 Uhr sind stets fast alle Mitarbeiter anwesend.

11:30 Uhr In der Redaktion eröffnen die Täter das Feuer. Sie sind mit Kalaschnikows und einem Raketenwerfer bewaffnet. Die Mitarbeiter versuchen sich unter den Schreibtischen zu verstecken. Während des fünfminütigen Angriffs rufen die Täter Parolen wie „Allah ist groß“ und „Wir haben den Propheten gerächt“. Sie sagen, sie gehörten zur Terrororganisation al-Qaida, berichtet später die Überlebende Coco Rey.

11:35 Uhr Vor dem Redaktionsgebäude liefern sich die Attentäter einen Schusswechsel mit der Polizei, die von einem Überlebenden zur Redaktion gerufen worden war. Ein Polizist, der am Boden liegt, wird in den Kopf geschossen. Daraufhin flüchten die Täter in einem schwarzen Auto Richtung Norden. Zeugenvideos und Pariser Polizeikreisen zufolge lässt die Vorgehensweise der Täter darauf schließen, dass es sich um Profis handelt.

ca. 12:00 Uhr An der Porte de Pantin im Nordosten Paris – in der Nähe des Parks Buttes-Chaumont – kommt das Fluchtauto der Mörder ins Schleudern und kracht in einen Laternenmast. Daraufhin zerren die Terroristen einen älteren Mann aus seinem grauen Renault Clio II und schreien: „Wir gehören zu al-Qaida im Jemen.“ Sie setzen ihre Flucht fort und fahren eine Fußgängerin an. Ermittler finden im ersten Fluchtwagen, einem Citroën C3, ein Dutzend Molotowcocktails und jihadistische Fahnen.

Donnerstag 8. Jänner 2015

ca. Mitternacht Die französische Polizei nennt erstmals die Namen der Verdächtigen in einem Fahndungsaufruf: Die Brüder Chérif, 32 Jahre alt, und Saïd Kouachi, 34 Jahre alt, werden als mutmaßliche „Charlie Hebdo“-Attentäter gesucht. Die Franzosen Chérif und Saïd Kouachi stammen aus Paris und sind die Söhne algerischer Einwanderer. Die Identifizierung gelingt den Behörden durch einen groben Fehler der Brüder: In einem Fluchtauto fand die Polizei einen Personalausweis. 

ca. 1.00 Uhr Ein mutmaßlicher Komplize der als Haupttäter verdächtigten Brüder stellt sich in Charleville-Mézières, einem Ort nahe der belgischen Grenze, der Polizei. Der 18-jährige Mourad Hamyd wird dort festgenommen. Zuvor kursierte sein Name im Zusammenhang mit dem Attentat in sozialen Netzwerken. Hamyd ist der Bruder von Chérif Kouachis Ehefrau. Am Freitag wird Hamyd wieder freigelassen, da er beweisen kann, dass er den ganzen Mittwoch in der Schule verbracht hatte.

ca. 8.00 Uhr Ein Mann in schusssicherer Weste und mit umgeschnallten Patronengürtel eröffnet im im südlichen Pariser Vorort Montrouge mit einer Kalaschnikow das Feuer auf zwei Polizisten, die gerade einen Verkehrsunfall aufnehmen. Eine 27-jährige Polizistin stirbt dabei, ein Straßenreinigungsmitarbeiter wird durch eine Pistolenkugel schwer verletzt. Der Angreifer kann fliehen.

ca. 13.00 Uhr Die "Charlie Hebdo"-Tatverdächtigen überfallen in der Nähe des nordfranzösischen Orts Villers-Cotterêts eine Tankstelle und stehlen Benzin und Essen. Anschließend setzen sie die Flucht fort. Der Tankstellenbesitzer identifiziert die bewaffneten Männer.

ca. 19.00 Uhr Die Brüder haben offenbar ihr Fluchtauto verlassen und sollen sich nördlich von Paris befinden. Ein Polizeigroßaufgebot habe vor dem Wald von Longpont Stellung bezogen – nahe der Stadt Villers-Cotterêts, wo die Verdächtigen zuletzt gesichtet wurden. Der Wald von Longpont liegt nordöstlich von Villers-Cotterêts und erstreckt sich über gut 13.000 Hektar. Die Polizei konzentriert ihre Suche auf ein Gebiet von rund 20 Quadratkilometern rund um die Stadt, zahlreiche Häuser werden durchsucht. Zwischenzeitlich wird bekannt, dass über neun Personen aus dem Umfeld der Tatverdächtigen eine Untersuchungshaft verhängt wurde.

ca. 21.00 Uhr Der Einsatz im Wald von Longpont scheint bereits wieder beendet zu sein. Die Polizisten würden wieder abziehen, das Ergebnis sei nicht bekannt, meldeten "Le Monde" und "Le Figaro".

ca. 22.30 Uhr Die ganze Nacht sind fünf Hubschrauber mit Wärmebildkameras im Einsatz, um die mutmaßlichen Täter zu finden.

Freitag 9. Jänner 2015

ca. 9.00 Uhr In Seine-et-Marne, im Nordosten von Paris, überfällt das Brüderpaar Kouachi eine Frau und stiehlt ihren Peugeot. Anschließend kommt es zu einer Verfolgungsjagd und einer Schießerei mit der Polizei auf der Nationalstraße 2. Zwanzig Personen werden dabei verletzt. Die mutmaßlichen Attentäter entkommen erneut. Mittlerweile sind 88.000 Sicherheitskräfte im Einsatz, um die beiden Männer festzunehmen.

ca. 10 Uhr Die Kouachi-Brüder verschanzen sich in einer Druckerei in Dammartin-en-Goële und nehmen eine Geisel. Die Region um die Druckerei wird großräumig abgesperrt. Fünf Hubschrauber kreisen über dem Gebiet, die Polizei hat das Gebäude umstellt. Das Handynetz wird in der Kleinstadt Dammartin-en-Goële abgeschaltet, die Schulen des Orts abgeriegelt. Anrainer werden aufgefordert, in ihren Häusern zu bleiben. Die Geiselnahme beeinträchtigt auch den Flugverkehr, da Dammartin-en-Goële nur 15 Kilometer vom Flughafen Paris-Charles-de-Gaulle entfernt liegt. Zwei Landebahnen werden gesperrt, Flüge umgeleitet.

ca. 11.00 Als Hauptverdächtiger im Polizistenmord von Montrouge wird in französischen Medien der 32-jährige Amedy Coulibaly gehandelt. Er gehört derselben jihadistischen Gruppe an wie die Brüder Kouachi: Sie sollen Mitglieder der „Jihadisten von Buttes-Chaumont“ sein – die Gruppe nennt sich nach dem Park im Nordosten von Paris. Die Verbindung rekrutierte in der Vergangenheit immer wieder Jihadisten, die nach Syrien und Irak geschickt wurden.

13.00 Uhr Nahe der U-Bahn-Station an der Porte de Vincennes in Ostparis fallen Schüsse.

13.05 Uhr Ein mit einer Kalaschnikow und einer Skorpion-Maschinenpistole bewaffneter Mann überfällt den koscheren Supermarkt „Hyper Cacher“ an der Porte de Vincennes und nimmt dabei mehrere Geiseln. Die Polizei riegelt die Gegend großräumig ab und bezieht vor dem Geschäft Position. Der Geiselnehmer ruft den Polizisten zu: „Ihr wisst, wer ich bin!“

14.30 Uhr Die französische Polizei veröffentlicht einen Fahndungsaufruf nach Amedy Coulibaly, den man auch hinter der Geiselnahme im koscheren Supermarkt vermutet. Außerdem bestätigt die Polizei die Vermutungen, dass Coulibaly auch hinter dem Mord an der Polizistin stecken könnte. Die Ehefrau von Chérif Kouachi sagt gegenüber der Polizei aus, dass ihr Mann und Amedy Coulibaly in engem Kontakt zueinander stünden. Auch wird Coulibalys Freundin und angebliche Komplizin Hayat Boumeddiene, 26 Jahre alt, gesucht.

16.00 Uhr Anwohner des Supermarkts an der Porte de Vincennes, in dem Coulibaly mehrere Geiseln hält, werden von der Polizei evakuiert.

16.30 Uhr Es wird bekannt, dass der Geiselnehmer im koscheren Supermarkt die Kouachi-Brüder freipressen will. Er droht mit der Ermordung der Geiseln.

ca. 16.50 Uhr In Dammartin-en-Goële sind Schüsse und Explosionen zu hören. Die Kouachi-Brüder, die sich dort mit einer Geisel in einer Fabrikshalle verschanzt hatten, waren zuvor aus dem Gebäude gekommen und hatten begonnen, auf die Einsatzkräfte zu schießen. Die Einheiten der Polizei beginnen mit der Befreiung der Geisel; Chérif und Saïd Kouachi kommen bei dem Zugriff um. Die Geisel überlebt unversehrt.

ca. 17.10Uhr Auch an der Porte de Vincennes sind kleinere Explosionen zu hören. Die Polizei beginnt mit dem Zugriff auf den Supermarkt, in dem Amedy Coulibaly mehrere Geiseln hält. Coulibaly stirbt bei der Befreiung der Geiseln.

20.00 Uhr Der französische Staatspräsident François Hollande bestätigt in einer TV-Ansprache den Tod der mutmaßlichen „Charlie Hebdo“-Attentäter und Geiselnehmer Chérif und Saïd Kouachi sowie jenen Amedy Coulibalys, der hinter der Geiselnahme in dem Pariser Geschäft steht sowie verdächtigt wird, die Polizistin in Montrouge erschossen zu haben. Außerdem erklärt Hollande, dass bei der Geiselnahme in Paris vier Männer – allesamt französische Juden – von Coulibaly ermordet wurden; er bezeichnet dies als „furchtbare antisemitische Attacke“.

(and/eup/APA/Reuters)

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