Terrorangst: Auszug der Juden aus Frankreich

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Schon 2014 stellten die französischen Juden mit 6000 Immigranten die größte Einwanderergruppe in Israel. Doch das war vor dem jetzigen Attentat. Premier Netanjahu:"Israel ist euer Heim."

Paris. Bleiben oder ausreisen? Das ist eine Frage, die sich in Frankreich immer mehr jüdische Mitbürger stellen. Die meisten von ihnen hätten noch vor wenigen Jahren niemals gedacht, dass sie eines Tages vor diesem Dilemma stehen würden. Doch dann verübte im März 2012 Mohammed Merah das Massaker vor einer jüdischen Schule in Toulouse, zwei Jahre später erschoss der Franzose Mehdi Nemmouche im Jüdischen Museum von Brüssel vier Menschen, im Sommer 2014 verwüsteten propalästinensische Demonstranten jüdische Geschäfte in Sarcelles. Und jetzt, am Freitag, die blutige Geiselnahme im jüdischen Geschäft HyperCasher an der Porte de Vincennes in Paris, bei der vier Kunden vom islamistischen Terroristen Amedy Coulibaly kaltblütig erschossen wurden.

Der tödliche Angriff auf die Satirezeitung „Charlie Hebdo“ am Mittwoch war ein Attentat auf die Presse- und Meinungsfreiheit. Die Ermordung einer Polizistin durch Coulibaly am Donnerstagmorgen war eine Herausforderung der Staatsgewalt der französischen Republik. Der Überfall auf ein jüdisches Geschäft und die Tötung von vier Juden zu Beginn der Geiselnahme am Freitag war Ausdruck eines mörderischen Antisemitismus. Nach noch unbestätigten Informationen der Untersuchungsbehörden soll der mit automatischen Waffen und Sprengstoff ausgerüstete Coulibaly ursprünglich geplant haben, eine jüdische Schule anzugreifen. Da diese aber gut bewacht war, habe er sich kurzfristig diesen Supermarkt am östlichen Stadtrand ausgesucht. Es gibt keinen Zweifel mehr: Die in Frankreich lebenden Juden gelten für solche islamistischen Terroristen als Feinde, als Zielscheiben.

„Wir sind in einem Krieg“

„Wir sind in einem Krieg“, erklärte am Sonntag Roger Cukierman, der Vorsitzende des Repräsentativen Rats der Jüdischen Institutionen Frankreichs, der am Sonntagmorgen von Staatspräsident François Hollande empfangen wurde. Hollande habe ihm versichert, wenn nötig, würden künftig – über die bisherigen Schutzvorkehrungen hinaus – Schulen, Synagogen und andere jüdische Einrichtungen vom Militär bewacht. Das wird nicht alle wirklich beruhigen. Obwohl sie auch in Israel nicht in Sicherheit vor Attentaten sind, denken darum immer mehr jüdische Franzosen an die Auswanderung. Der israelische Premierminister, Benjamin Netanjahu, möchte das fördern. Vor seiner Reise nach Paris, wo er neben vielen anderen Staats- und Regierungschefs an der Kundgebung gegen den Terrorismus teilnehmen wollte, erklärte er den französischen Glaubensbrüdern einladend: „Israel ist euer Heim!“ Jeder Jude aus Frankreich werde in Israel mit offenen Armen empfangen. „Ohne seine Juden wäre Frankreich nicht mehr Frankreich“, betonte am Samstagabend Premier Manuel Valls bei einer Kundgebung vor dem Tatort beim jüdischen Supermarkt.

Mehr als 6000 französische Juden sind bereits 2014 nach Israel ausgewandert. Das oft genannte Gefühl der Bedrohung durch einen zunehmenden Antisemitismus in Frankreich ist gewiss nur ein Motiv unter anderen, wird aber jetzt häufig als erstes genannt. Aus keinem anderen Land kommen derzeit so viele Juden nach Israel wie aus Frankreich.

Israel rechnet mit 10.000 Immigranten

Der Antisemitismus (vor allem der extremen Rechten) war in Frankreich nie ganz verschwunden, in den vergangenen Jahren hat er sich in einer „neuen“ Form im Kontext des Nahost-Konflikts bei Jugendlichen aus muslimischen Familien verbreitet. Die Beleidigung „Sale Juif“ oder eben im Vorstadtjargon „Feuj“ ist dort mittlerweile so banal wie sonst ein Schimpfwort. Wer eine „Kippa“ trägt, muss mit Spott oder Tätlichkeiten rechnen. In Quartieren, in denen die „Cousins“ aus Nordafrika, Muslime und jüdische Sephardim, lange problemlos zusammengelebt haben, wachsen jetzt die Spannungen.

Für 2015 rechnete die Jewish Agency in Israel mit 10.000Neuankömmlingen aus Frankreich. Das aber noch vor den jüngsten Attentaten und der Ermordung der vier Geiseln an der Porte de Vincennes. Der Besitzer des Supermarkts hat übrigens bereist angekündigt, nach Israel zu emigrieren. Er fühle sich nicht mehr sicher in Frankreich.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.01.2015)

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