Experte: „Die Ukraine hat mehr als genug Waffen“

Members of a special unit of the Ukrainian armed forces line up before departing to take part in a military operation, during a farewell ceremony in Kharkiv
Members of a special unit of the Ukrainian armed forces line up before departing to take part in a military operation, during a farewell ceremony in Kharkiv(c) REUTERS (STANISLAV BELOUSOV)
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Die Aufrüstung der ukrainischen Streitkräfte wäre angesichts der Kiewer Planlosigkeit nutzlos, warnt der Geheimdienstforscher Mark Galeotti.

Die Presse: Heuer sind bei Kämpfen in der Ukraine schon mehr als 300 Menschen getötet worden, obwohl offiziell ein Waffenstillstand gegolten hat. Wieso?

Mark Galeotti: Es gab niemals einen Zweifel daran, dass der Krieg wieder ausbrechen würde. Der gefährlichste und am wenigsten bekannte Faktor ist für mich: Wir wissen nicht, wie die Welt für Putin aussieht. Wir wissen, dass sein engster Kreis an Vertrauten schrumpft. Wir wissen, dass viele der wichtigsten Interessengruppen keinen direkten Zugang mehr zu ihm haben. Nicht einmal die westlichen Geheimdienste haben Einblick. Die Russen wissen nur, dass sie mit ihrer Offensive feststecken. Ihr Kalkül lautet also, den Druck jetzt zu erhöhen, um entweder Kiew zum Kapitulieren zu zwingen oder Mariupol einzunehmen, womit die „Volksrepublik Donezk“ ein wenig legitimer aussehen könnte. Sie hätten dann einen funktionierenden Hafen und könnten eine Landbrücke zur Krim einrichten.

Aber Kiew gibt nicht nach.

Genau. Nur, ehrlich gesagt: Die ukrainische Kriegsführung ist jämmerlich. Dieser Krieg ist im Grunde genommen das Ergebnis von 20Jahren versäumter Staatsreform. Das Land ist korrupter als Russland, und es ist kein Wunder, dass die Leute auf der Krim die Seiten gewechselt haben, weil sie von Kiew ziemlich mies behandelt worden sind. Die ukrainische Führung hat weder einen Schlachtplan noch eine Vorstellung davon, wie dieser Krieg enden soll. Wenn sie angreifen, dann stets in sehr kleinem Rahmen, ein paar hundert Truppen hier, zehn Panzer dort – also genau in dem Format, in dem die Separatisten besser sind. Und da reden wir noch nicht einmal von russischen Elitetruppen. Die ukrainischen Streitkräfte umfassen rund 50.000 Mann. Zum Vergleich: Als Bosnien und Herzegowina Krieg gegen serbische Rebellen führte, was ein sehr ähnlicher Krieg war, hatte seine Armee 150.000 Mann.

Was soll Kiew tun?

Wenn das tatsächlich ein existenzieller Konflikt ist, wie die Regierung stets betont, dann sollte sie ihn so behandeln und eine Armee von 250.000 Mann mobilisieren, einen klaren Schlachtplan entwerfen und ihn durchziehen. Das hat enorme politische, wirtschaftliche und menschliche Kosten. Wenn Poroschenko sie vermeiden will, muss er mit Moskau eine Einigung finden. Nur: Putin ist bereit, mit seinem Volk viel rücksichtsloser umzugehen als Poroschenko mit seinem.

Soll der Westen Kiew aufrüsten?

Die Ukraine hat mehr als genug Waffen. Und es gibt keine Wunderwaffe, die diesen Krieg allein entscheiden könnte. Dieser Krieg wird in Städten geführt, auf kurze Entfernung. Im Grunde genommen sind alle Kriege mittelalterlich. Sie erfordern arme Schweine, die da reingehen und töten oder sich töten lassen.

Warum sollte ein junger Ukrainer sein Leben für diese Regierung opfern?

Das ist eine sehr gute Frage. Es steht und fällt mit dem politischen Willen. Von der ukrainischen Regierung kommt im Moment nur Rhetorik. Und die Ukrainer haben mehr als genug Erfahrung damit, von ihren Politikern belogen zu werden.

Erwarten Sie einen offenen Angriff Russlands auf die Ukraine?

Russland hätte damit nichts zu gewinnen und alles zu verlieren. Russland will die Ukraine nicht besetzen. Denn abgesehen von den internationalen Auswirkungen wäre das sehr teuer. Man müsste eine Menge Geld ausgeben, um das Land zu befrieden und zu kontrollieren – und gleichzeitig müsste man es enorm subventionieren.

Kann man seriös sagen, wie viele russische Truppen in der Ukraine sind?

Ich habe mit Geheimdienstleuten geredet, die von 5000 bis 6000 Mann sprechen, Elitetruppen wie Fallschirmjäger und Marineinfanterie. Sie haben bisher jedes Gefecht mit ukrainischen Streitkräften gewonnen.

Wie kommt man auf diese Zahlen?

Die Überwachung der elektronischen Kommunikation diverser Armeeeinheiten ist die ergiebigste Quelle. Man verfolgt also zum Beispiel das Signal eines Transponders, der zu einem Radar gehört, das nur von einem bestimmten Fahrzeug verwendet wird, das zu einer bestimmten Militäreinheit gehört.

Wie beurteilen Sie das Handeln der westlichen Geheimdienste, allen voran der CIA?

Ich habe bei westlichen Geheimdienstleuten viel Erbitterung und Verzweiflung gesehen. Denn erstens sind die ukrainischen Geheimdienste von den Russen unterwandert. Zweitens scheinen sie handwerklich unfähig zu sein. Das begrenzt die Möglichkeit, Kiew geheimdienstlich zu helfen. Zudem hat der Westen nur sehr kleine Netzwerke an Quellen und Informanten. Die Ukraine war ja bis vor Kurzem für niemanden eine Priorität.

Die Spione waren also von der Maidan-Widerstandsbewegung überrascht?

Absolut. Da war kein geheimer Umsturzplan des US-Außenministeriums. Dass Maidan erfolgreich war, lag großteils daran, dass der gestürzte Präsident Viktor Janukowitsch so phänomenal inkompetent war. Ein vernünftiger Diktator hätte die richtige Balance mit gerade genug Repression gefunden, ohne einen Aufstand auszulösen.

ZUR PERSON

Mark Galeotti ist Professor an der New York University. Seit den 1980er-Jahren erforscht er Geheimdienste und Militär der UdSSR beziehungsweise Russlands sowie das organisierte russische Verbrechen. Er hat früher unter anderem das britische Außenministerium beraten und 2014 sieben Monate in Russland verbracht. [ Mark Galeotti]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.02.2015)

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