Ostukraine: Wo ist der Rest der Armee?

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Der Rückzug aus Debaltsewo war keineswegs „geordnet“, wie Präsident Poroschenko behauptet. Soldaten berichten von einer chaotischen Flucht – und vermissen unzählige Kameraden.

Jura, ein ukrainischer Soldat mit Vollbart und rotblondem Haar, ist mit dem Leben davongekommen. In seiner dreckigen Uniform und einer Plastiktasche in der Hand steht er im Zentrum des ostukrainischen Städtchens Artjomowsk und erzählt vom Ausbruch seiner Einheit aus Debaltsewo tags zuvor. Und das in anderen Worten als der ukrainische Präsident, Petro Poroschenko.

Der Staatschef hat am Mittwoch von einem „geordneten und geplanten Rückzug“ gesprochen. Jura sagt nur: „Es war dunkel, es herrschten Chaos und Durcheinander.“ Es regnete Geschosse, und Jura, der ukrainische Soldat, versuchte nur noch, sich vor dem Angriff der Separatisten in Sicherheit zu bringen.

Sein Kollege, einen Kopf größer, dunkles Haar, dreckige Fingernägel, erklärt wortkarg, er sei „froh, hier zu sein“. In einem Schützenpanzer haben sie es aus dem Kessel von Debaltsewo geschafft.

Jetzt erledigen sie in Artjomowsk erste Einkäufe, heben Geld ab, versuchen, auf andere Gedanken zu kommen. Der Alkohol, den sie getrunken haben, soll dabei helfen.

Überfülltes Krankenhaus

Das schmucklose Städtchen Artjomowsk, knapp 50 Kilometer von Debaltsewo entfernt, ist unter ukrainischer Kontrolle, ein sicheres Pflaster für die gestrandeten Soldaten. Vorerst noch. Man fürchtet, die prorussischen Kämpfer könnten weiter vorrücken und die Stadt unter Beschuss nehmen.

Nach Artjomowsk jedenfalls kamen die ukrainischen Soldaten am Mittwoch in langen Fahrzeugkolonnen, hier streunten sie gestern durch die schnurgeraden Straßen, vorbei am Leninplatz und den wenigen Restaurants, die es gibt.

Das Krankenhaus der Stadt ist voller Verwundeter, fast 200 wurden am Mittwoch eingeliefert, auch gestern fuhren immer wieder Notarztwägen vor den dreistöckigen Ziegelbau vor. Der notdürftig ausgestattete Operationssaal im vierten Stock ist abgenutzt, in den Zimmern ruhen Soldaten. Schusswunden, Splitterwunden, Abnahmen von Gliedmaßen – das kommt am häufigsten vor.

Vor dem Ziegelbau stehen diejenigen, die es nicht so schwer erwischt hat, und rauchen. Männer in Uniform, mit angeschlagenen Nasen, gebrochenem Daumen, Schürfwunden. Komplizierte Fälle werden in die großen Städte überstellt: nach Charkiw, Dnjepropetrowsk und Kiew.

Debaltsewo sei zu 90 Prozent geräumt, hieß es gestern vonseiten des ukrainischen Generalstabs. Was das genau bedeutet, weiß niemand.

Bis zu 2500 Tote?

Es ist unklar, wie viele Soldaten zuletzt in der von den prorussischen Separatisten belagerten Stadt waren. Die Freiwilligenbataillone führen anders als die Armee keine strengen Listen. Die von Kiew kolportierte Zahl von 7000 bis 8000 eingeschlossenen Soldaten dürfte zu hoch gewesen sein. Inoffiziell schätzt man die Zahl der Kämpfer auf 4000 bis 5000. Wenn nun, wie es heißt, 2500 erfolgreich abgezogen wurden, wo ist dann der Rest?
Im Generalstab hieß es am gestrigen Donnerstag lediglich, dass mehr als 90 Kämpfer gefangen genommen wurden und weitere 82 vermisst werden.

Diese offiziellen Zahlen bezweifeln viele in Artjomowsk. Der Separatistenführer, Alexander Sachartschenko, sprach hingegen von 3000 bis 3500 Toten auf ukrainischer Seite. Beweise legte er keine vor. Die Zahl scheint übertrieben. Doch selbst ein Mittelwert würde hohe Verluste für die Ukrainer bedeuten.

Zu Fuß geflüchtet

Der 36-jährige Sanja, seinen Nachnamen will er nicht nennen, steht rauchend vor dem Spital. Sein Versorgungsbataillon hat fünf Tage vor dem Fall von Debaltsewo Munition an die Soldaten geliefert und war dort hängen geblieben. „Via est Vita“, der Leitspruch seiner Einheit auf seiner Uniform, drohte sich zu verkehren: Der einzige Weg nach draußen war von den Separatisten vermint worden, die Fahrzeugkolonne saß in der Falle. Drei Mal versuchten sie erfolglos auszubrechen. Schließlich lief der Soldat sechs Kilometer zu Fuß, über Feldwege, im Dunkeln, nur mit einer Taschenlampe. Acht seiner Kollegen musste er verwundet zurücklassen. Über ihr Schicksal weiß er nichts zu sagen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.02.2015)

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