Türkei - Syrien: Leichtes Spiel für die Jihadisten an der Grenze

A Fighter from Islamist Syrian rebel group Jabhat al-Nusra poses at checkpoint in Aleppo´s Bustan al-Qasr
A Fighter from Islamist Syrian rebel group Jabhat al-Nusra poses at checkpoint in Aleppo´s Bustan al-Qasr(c) REUTERS (STRINGER)
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Die Stadt Reyhanli, zehn Kilometer von Syrien entfernt, gilt als Stützpunkt der Terrororganisation al-Nusra. Tausende Flüchtlinge haben sich hierher gerettet.

Die Vernunft habe sich hier schon lang nicht mehr blicken lassen, sagt Yunus, der Lehrer. Vernünftig wäre es zum Beispiel, gegen die eigenen Vorurteile zu kämpfen, gegen Pauschalverdächtigungen und gegen die diffuse Angst, die einen viel zu oft übermannt. Aber davon will Yunus jetzt nichts wissen, denn auf der gegenüberliegenden Straßenseite sitzen drei junge Männer auf schiefen Treppenstufen und unterhalten sich amüsiert und wild gestikulierend. Es ist nicht die Situation, die Yunus stört, es ist vielmehr das Auftreten der kleinen Gruppe: Die Männer tragen lange Bärte, schwarzes Gewand, sie strotzen förmlich vor Selbstbewusstsein. Könnten Jihadisten auf der Durchreise sein, sagt Yunus. Oder auch nur drei Burschen, die es lustig haben. Er wägt ab und entscheidet sich für Ersteres und somit für Argwohn und Verdacht, „aber ich habe allen Grund dazu“.

Seit Beginn des syrischen Bürgerkrieges erkenne Yunus seine 90.000-Seelen-Stadt Reyhanli in der südtürkischen Provinz Hatay nicht mehr wieder. Die Grenze ist nur ein paar Kilometer entfernt, und seit Beginn des Konflikts haben sich tausende Flüchtlinge hierher gerettet. Reyhanli gilt aber auch als Stützpunkt für Jihadisten, vornehmlich der al-Nusra-Front (eines al-Qaida-Ablegers), die das Gebiet jenseits der türkischen Grenze kontrollieren. Wenn Einwohner wie Yunus bei den bärtigen Männern islamistische Kämpfer ausmachen, „dann aus Erfahrung, denn früher sind solche Leute nicht bei uns herumgelaufen“, sagt er. Vielen Tschetschenen sei er auf der Straße begegnet, Pakistanis und Afghanen, Arabern aus dem Maghreb, manche trügen ihre Verletzungen stolz zur Schau, andere sogar ihre Waffen. „So, und dann fragen wir uns: Was machen die hier?“

Yunus ist Mitglied der Lehrergewerkschaft Eğitim-Sen in Reyhanli und dokumentiert die Veränderungen in seiner Stadt. Ein unfertiges Gebäude aus kahlem Beton in einer holprigen Straße mit Schlaglöchern ist ihm ein Dorn im Auge, denn das Haus wird von allen Seiten videoüberwacht. Yunus zeigt auf die hohen Zäune, die das Gebäude umgeben; ein Hochsicherheitstrakt für „die Bärtigen“, sagt er. Ein paar Meter weiter steht ein ebenfalls gut gesichertes Gebäude, und Yunus weiß, dass es sich um eine Schule handelt. In seinen Klassen, sagt der Lehrer, befinde sich kein einziges syrisches Flüchtlingskind – die meisten landen in Schulen wie diesen, die von privaten, religiösen Stiftungen geleitet werden. Insgesamt 16 solcher Einrichtungen gebe es allein in Reyhanli. „Sie müssen sich nicht an unseren Lehrplan halten“, sagt Yunus, „wir wissen nicht, was dort unterrichtet wird.“ Erst seit Kurzem wurden für diese Schulen Direktoren vom Bildungsministerium verpflichtet.

Diebstahl, Bettelei und Kinderarbeit

Reyhanli ist eine Stadt der offenen Wunden. Flüchtlingsfamilien bevölkern die Straßen und erinnern schmerzlich an den Krieg ein paar Kilometer weiter östlich, viele Einheimische haben die Stadt in den vergangenen vier Jahren verlassen. „Auf dem Bau verdient ein Türke 70 Lira die Stunde“, sagt ein Greißler, „und ein Syrer arbeitet für 20. Wen nehmen Sie da?“ Er steht vor seinem Geschäft und rührt den Zucker in einem dünnen Teeglas um. Wie die meisten Einwohner hier hat auch er arabische Wurzeln, und wie die meisten Einwohner hegt er Argwohn gegen die Neuankömmlinge – die Flüchtlinge, die mittlerweile die Mehrheit der Stadt ausmachen dürften. Er sagt, was die meisten hier über die Syrer sagen: „Sie haben Diebstahl, Prostitution, Bettelei und Kinderarbeit zu uns gebracht.“

Über 1,6 Millionen Syrer haben sich seit Beginn des Bürgerkrieges in die Türkei gerettet. Der staatliche Umgang mit den Flüchtlingen sei nicht auf Integration ausgerichtet, klagt Midhat Can vom Menschenrechtsverein IHD in Antakya, der Provinzhauptstadt. „Sie wohnen in Camps und haben ihre eigenen Schulen.“ In diesen isolierten Blasen hätten die Jihadisten ein besonders einfaches Spiel. „Schauen Sie nach Reyhanli“, sagt er, „da laufen sie auf der Straße herum und überqueren dann nachts die Grenze.“

Die al-Nusra-Front hat in Hatay und besonders in Reyhanli ein gut organisiertes Versorgungsnetz, berichten türkische Medien. Als vor knapp zwei Jahren zwei Autobomben detonierten und mindestens 51 Menschen starben, hatte Ankara schnell die Verdächtigen ausgemacht und eine Nachrichtensperre über Reyhanli verhängt. Der Verdacht richtet sich gegen die marxistische Untergrundorganisation DHKP-C, die vom syrischen Regime unterstützt worden sein soll. Sowohl die DHKP-C als auch Damaskus haben die Vorwürfe zurückgewiesen. Stattdessen soll al-Nusra hinter den Anschlägen stecken; türkische Medien haben Bekennerschreiben veröffentlicht. Auf der Straßenkreuzung, auf dem ein Auto explodierte, steht nun ein Denkmal. „Die Anschläge haben unsere Stadt traumatisiert“, sagt Yunus. Er zeigt auf die Stufen zum Denkmal, wo wieder ein paar junge Männer sitzen, alle mit Bart, alle in Schwarz.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.02.2015)

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