Inside Raqqa: Die "Hauptstadt" des Islamischen Staates

Ein Jihadist in Raqqa
Ein Jihadist in RaqqaREUTERS
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Seit einem Jahr kontrollieren Jihadisten die syrische Stadt, die zuvor bekannt für ihre Liberalität war. Nun gilt hier die Scharia. Gelegentlich dringen Nachrichten nach außen.

„Raus mit ISIS!“ Ein Satz, der tödlich sein kann. Daher schreiben und kleben die Aktivisten Sprüche wie diese nachts an die Wände, wenn die Straßen leer und ruhig sind. Werden die Aktionen auch noch gefilmt, müssen sie erst recht mit drakonischen Strafen rechnen. Und dennoch: es gibt sie, die Männer und Frauen, die in Raqqa gegen das Terroregime des Islamischen Staates (IS) kämpfen. Sie sprühen Parolen an die Wände, geben westlichen Medien anonym Interviews über den Alltag in der syrischen Stadt, und filmen heimlich die Straßen und Gassen, die geköpften Leichen, die dort herumliegen, und die Veranstaltungen, bei denen Kinder für den grausamen IS-Feldzug rekrutiert werden.

Raqqa gilt als die Hochburg des IS. Erst seit rund einem Jahr kontrollieren die Jihadisten die Stadt am Euphrat, rund 180 Kilometer westlich von Aleppo, aber sie wurde schnell ein blutiges Experiment: die "Hauptstadt" eines Kalifats im 21. Jahrhundert. Hier finden öffentliche Hinrichtungen statt, hier gilt die Scharia, deren Einhaltung von der Moralpolizei („Hesba“) überwacht wird. Die meisten in dieser Funktion sind zugewanderte Araber, sagt ein Einwohner von Raqqa in einem Interview; sie seien bekannt dafür, besonders grausam und streng zu sein. Was die Verwaltungsstrukturen betrifft, hat der IS die bestehenden Strukturen übernommen und die wichtigen Schaltstellen mit eigenen Leuten besetzt.

Juni 2014: ein Bild geht um die Welt. Ein Islamist kurz nach Übernahme Raqqas vom IS
Juni 2014: ein Bild geht um die Welt. Ein Islamist kurz nach Übernahme Raqqas vom ISREUTERS
Juni 2014: Islamisten bei einer
Juni 2014: Islamisten bei einer "Militärparade" nach der Einnahme RaqqasREUTERS

Frauen dürfen nur komplett verhüllt in einem Niqab die Straße betreten, meistens werden sie von „neutralen männlichen Personen“ wie Ehemann, Sohn oder Bruder begleitet. Für einen französischen TV-Sender hat eine Frau im Niqab heimlich die Straßen in Raqqa gefilmt: zu sehen sind unter anderem verhüllte Frauen, die Kalaschnikows auf ihren Rücken tragen. Gezeigt wird auch ein Internetcafé, das nur von Frauen frequentiert wird. Hier nehmen sie Kontakt zu ihren Familien außerhalb Syriens auf. Bilder der Nachrichtenagentur Reuters zeigen kleine Mädchen, die ebenfalls verhüllt sind. Frauen und Mädchen werden mit IS-Kämpfern zwangsverheiratet, berichtet ein Aktivist dem Sender CNN.

Vor der Eroberung der Islamisten galt Raqqa als eine besonders liberal. Im Laufe des syrischen Bürgerkrieges wurde die knapp 280.000-Seelen-Stadt von Rebellen der Freien Syrischen Armee (FSA) besetzt, Raqqa galt sodann als Auffangbecken für die Gegner von Machthaber Bashar al-Assad, darunter auch viele Islamisten. Im Laufe eines Jahres konnte der IS immer mehr Macht gewinnen, im März 2014 schließlich wurde die Übernahme der Stadt durch die Terrormiliz verkündet. Somit war Raqqa die größte Stadt, die von den Jihadisten kontrolliert wurde. Scharmützel mit den Rebellen der FSA dauerten aber noch bis August an, ehe sie endgültig aus der Stadt gejagt wurden.

Wer konnte, ist bereits zuvor geflohen. Heute ist die Flucht praktisch unmöglich, berichtet ein Aktivist. „Hineinkommen ist einfach, hinausgehen nicht.“ Wenige Informationen dringen aus Raqqa nach außen. Der IS betreibt einen Propagandakanal, womit das Leben im Kalifat als paradiesisch dargestellt wird. Andere Aufnahmen sind verwackelt und werden von Aktivisten ins Netz gestellt. Die Gruppe „Raqqa is being slaughtered silently“ (RBSS) hat sich zum Ziel gesetzt, gegen den IS zu kämpfen – und zwar von innen. Mindestens eines der Mitglieder soll der IS in den vergangenen Monaten getötet haben, die anderen arbeiten im Untergrund. Die RBSS-Webseite funktioniert nicht immer, zumal der IS ganz genau kontrolliert, ob und wie negative Berichte über das Kalifat nach außen gelangen.

Das bisherige veröffentlichte Material lässt nur einen Schluss zu: Teile der Bevölkerung hungern und belagern die Bäckereien in der Stadt, die Einwohner werden angehalten, den öffentlichen Hinrichtungen beizuwohnen. Ein Bild zeigt etwa einen Mann, der an ein Kreuz genagelt wurde. Schulen wurden gesperrt, stattdessen gibt es religiösen Unterricht. Alkohol und Zigaretten sind verboten, auf einer Aufnahme ist zu sehen, dass Unmengen Zigaretten auf einem öffentlichen Platz verbrannt werden. Ein Aktivist berichtet, dass die Moralpolizei an den Fingern der Bewohner riecht, um zu kontrollieren, ob sie geraucht haben. Kleinen Buben und Jugendlichen wird Geld angeboten, damit sie berichten, ob und wer gegen den IS agitiert – oder auch nur gesprochen hat.

Öffentlich sind in Raqqa nicht nur die Hinrichtungen, sondern auch die Gebete: Videos zeigen, wie Männer auf den Straßen das Freitagsgebet verrichten. Öffentliche Gebete sind freilich nur Sunniten erlaubt – Christen in Raqqa dürfen ihren Glauben nur in ihren vier Wänden ausüben. Ende vergangenen Jahres wurde eine Verordnung veröffentlicht, darin heißt es etwa, dass Christen keine Kirchen reparieren oder errichten, öffentlich keine Gebete aufsagen und keine Muslime zur Konversion überreden dürfen. Der sunnitisch ausgerichtete IS hat auch jene Moscheen in Raqqa, die sich zum schiitischen Islam bekennen, zerstört.

„Die Menschen haben eine dicke Haut bekommen“, erzählt ein Aktivist, „du siehst dir eine Hinrichtung an und dann drehst du dich um gehst.“ Das sei schon Normalität geworden. Die meisten Einwohner aber würden den IS hassen – vor allem wegen der Hinrichtungen, erzählt ein anderer. Als der Kampf um die kurdisch-syrische Enklave Kobane tobte, wurden die Bewohner und die Geiseln in der Stadt gezwungen, Blut zu spenden, damit die IS-Verletzten versorgt werden konnten.

Viele Gebäude wurden nach der „Machtübernahme“ des IS schwarz angemalt, meist sind hier offizielle Stellen untergebracht. In Raqqa hat unterdessen nicht nur der IS das Sagen, sondern auch der al-Qaida-Ableger al-Nusra. Es gebe hier zwischen diesen eigentlich verfeindeten Organisationen mehrere Schnittstellen, berichtet ein Aktivist. Kürzlich sind Medienberichten zufolge kurdische Truppen bis vor die Stadt vorgedrungen, sie werden von den Luftschlägen der Anti-IS-Koalition unterstützt. Sollte der IS Raqqa verlieren, es wäre ein äußerst schmerzvoller Verlust für die Islamisten.

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