Das Beispiel der Destabilisierung der Ukraine schreckt auch die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen auf. Sie bereiten sich auf einen Hybridkrieg Russlands vor.
Wien. Auf die Nato-Panzer, die zum estnischen Nationalfeiertag in dieser Woche durch die Grenzstadt Narwa rollten, nur wenige Meter entfernt von der russischen Grenze, waren Sternenbanner, Union Jacks, spanische und niederländische Fahnen gepflanzt. Symbolischer hätte die Wahl der westlichen Alliierten für ihren Aufmarsch nicht ausfallen können: 95 Prozent der Bewohner bekennen sich in Narwa zur russischen Minderheit, im Land ist es lediglich ein Viertel.
Als US-Präsident Barack Obama vor einem halben Jahr unmittelbar vor dem Nato-Gipfel einen demonstrativen Besuch in der Hauptstadt Tallinn absolvierte, sicherte er den Esten – stellvertretend für alle Balten-Republiken – die unverbrüchliche Solidarität der Nato gegenüber dem „großen Bruder“ aus dem Osten zu. Symbolisch stationierten die Nato-Partner auch Truppen und Kampfjets im Baltikum. Im Vorjahr hatten die Balten eine ganze Reihe an Zwischenfällen zu Luft und zu Wasser registriert, und just zum Nato-Gipfel entführten die Russen einen estnischen Geheimdienstmitarbeiter. Michael Fallon, der britische Verteidigungsminister, warnte denn auch jüngst vor einem Hybridkrieg Russlands in der Region als Testfall für das westliche Verteidigungsbündnis.
Der „Baltische Weg“
Mehr als 25 Jahre ist es her, dass eine Million Balten anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des Hitler-Stalin-Pakts im Spätsommer 1989 eine mehr als 600 Kilometer lange Menschenkette formten, an der mehr als eine Million Menschen teilnahmen. Über die Grenzen der damaligen Sowjetrepubliken hinweg hakten sie sich unter und sangen gegen die Unterjochung an. Nun stehen sie wieder zusammen, erhöhen ihr Militärbudget, führen wie die Litauer die Wehrpflicht wieder ein und haben ihre Truppen in erhöhte Bereitschaft versetzt. Aus gutem Grund: Bis zum Wochenende hält Russland an der estnischen und litauischen Grenze neuerlich eine Militärübung ab. Dalia Gybauskaite, die Präsidentin Litauens, schlug längst Alarm: „Russland ist praktisch im Krieg mit Europa.“
Das Schicksal der Ukraine schreckt die Balten auf. Auch in Estland und Lettland gibt es russische Minderheiten, die ein Viertel der Bevölkerung ausmachen. Die drei baltischen Staaten gehören jedoch anders als die Ukraine seit 2004 der Nato an. Auf dem jüngsten Nato-Gipfel in Wales ging es darum, die Nato-Ostflanke zu beruhigen, ohne einen neuen Kalten Krieg zu entfachen. Das Ergebnis war ein Aktionsplan für Osteuropa, dessen Kern eine schnelle Eingreiftruppe ist – eine Speerspitze von bis zu 7000 Soldaten soll binnen zweier Tage in Krisenregionen verlegt werden können. Zuvor war die Nato-Luftraumüberwachung über dem Baltikum massiv verstärkt worden.
Der Artikel 5, die Nato-Beistandspflicht, beruhigt die Balten nicht zur Gänze: Es geht die Angst um, dass ein russischer Angriff schleichend, unter der Wahrnehmungsschwelle erfolgen könnte und dass die Nato erst reagiert, wenn es zu spät ist. Es ist die Angst vor einem Hybridkrieg – also einer Melange aus Desinformation, die etwa die russischsprachige Bevölkerungsteile aufwiegelt, Soldaten ohne Hoheitsabzeichen („grüne Männchen“), die plötzlich auftauchen, um diese Minderheiten zu schützen.
Probe aufs Exempel
Darauf bereiten sich die Balten vor. Litauens Streitkräfte probten zuletzt in der Kleinstadt Jonava Reaktionen auf Destabilisierungsversuche. In einem Szenario schützten Soldaten öffentliche Gebäude vor den Übergriffen einer aufgestachelten Meute. Zuvor hatte das Verteidigungsministerium einen Ratgeber für seine Bürger aufgelegt, wie sie sich im Kriegsfall verhalten sollen. Darin finden sich Sätze wie: „Schüsse vor ihrem Fenster sind nicht das Ende der Welt.“ Litauens Außenminister warnte zudem Europa vor „Appeasement, bis es zu spät ist“. Lettlands Armee plant die Ausbildung einer „Cyber-Jugendgarde“ nach estnischem Vorbild. Im Hybridkrieg ist auch das Internet ein Schlachtfeld.
Die Ängste der Nato-Ostflanke drücken sich zudem in den Budgetzahlen aus: Im Baltikum werden die Verteidigungsausgaben heuer ausnahmslos erhöht, in Ländern wie Deutschland und Großbritannien dagegen sinken, prognostizierte gestern das „European Leadership Network“. Und an die Nato-Vorgabe, mindestens zwei Prozent des BIP für Verteidigung auszugeben, dürfte sich nur ein europäisches Mitglied halten: Estland.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.02.2015)