Weltbühne: Briten sind nur noch Nebendarsteller

(c) Reuters (STEFAN WERMUTH)
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Ob Ukraine-Krise oder der Kampf gegen den IS: Premier David Cameron führte Großbritannien in die außenpolitische Irrelevanz.

London. Die Empörung in Großbritannien war riesengroß, als ein russischer Regierungsvertreter im September 2013 als Reaktion auf Kritik aus London spottete, das Vereinigte Königreich sei doch nur „eine kleine Insel, auf die niemand hört“. Die verbale Ohrfeige, die allgemein Präsidentensprecher Dmitri Peskow zugeschrieben wird, saß. Keine zwei Jahre später stellt diese Aussage eine punktgenaue Analyse der britischen Außenpolitik dar.

Denn London hat sich in den vergangenen Monaten von der Weltbühne verabschiedet. „Absent without leave“ (AWOL), kommentierte der „Guardian“ unter Verwendung des Militärausdrucks für unerlaubtes Entfernen von der Truppe. Joseph Hellers „Catch 22“ machte AWOL zum geflügelten Wort, und in einer ähnlich vertrackten Situation sind die Außenbeziehungen der einstigen Weltmacht zwischen Großmannssucht und Isolationismus.

Letztere Tendenz hat dabei derzeit klar die Oberhand, wie das Parlament auflistet: Im Kampf gegen die Terrormiliz IS hat Großbritannien, nach Frankreich zweitgrößte Militärmacht Europas, gerade einmal sechs Prozent der Luftschläge durchgeführt. Während außerhalb der kurdischen Gebiete des Irak 400 Australier, 280 Italiener und 300 Spanier als Militärberater im Einsatz sind, hat London drei Personen entsendet.

Der Vorsitzende des parlamentarischen Verteidigungsausschusses, Rory Stewart von den Konservativen, lässt an seiner eigenen Regierung kein gutes Haar. Die außenpolitischen Ambitionen unter Premier David Cameron bezeichnet er als „atemberaubend bescheiden“. Einen ähnlichen „Mangel an Ehrgeiz“ sieht auch Ex-Nato-Kommandant Richard Shireff. Cameron sei in der Ukraine-Krise nur ein „Nebendarsteller“, der Großbritannien in die „außenpolitische Bedeutungslosigkeit“ geführt habe. Während die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident François Hollande in Minsk um einen Waffenstillstand in der Ostukraine rangen, besuchte Cameron einen Wahlkreis auf der Stimmenjagd für die Unterhauswahlen am 7. Mai. Die Idee, mit außenpolitischer Führung Zustimmung bei Wählern zu ernten, kommt ihm erst gar nicht.

Wie Schlafwandler

Ein Bericht des Oberhauses wirft der Regierung vor, „wie ein Schlafwandler in die Ukraine-Krise getaumelt“ zu sein. Zudem sei London seinen Verpflichtungen aus dem Budapester Memorandum von 1994 nicht nachgekommen, laut dem Großbritannien als eine der Signatarmächte die Souveränität der Ukraine garantiert. Von der Regierung werden die Vorwürfe vehement zurückgewiesen. Großbritannien arbeite „sehr eng mit Deutschland zusammen“, und Premier Cameron sei einer der führenden Verfechter einer Verschärfung der Sanktionen gegen Russland gewesen. Auf den Vorwurf der Untätigkeit konterte das Verteidigungsministerium zuletzt mit der Ankündigung der Entsendung von 75 Militärberatern in die Ukraine.

Die außenpolitische Abstinenz war nicht immer Camerons erste Option. Bei den Luftschlägen gegen den libyschen Alleinherrscher Muammar al-Gaddafi war er gemeinsam mit Frankreichs Nicholas Sarkozy der große Wortführer. Frisch im Amt sparte er nicht mit weltpolitischen Statements. Alles änderte sich mit der Niederlage der Regierung im britischen Unterhaus am 29. August 2013, als eine Mehrheit gegen Militärschläge gegen das syrische Regime von Bashar al-Assad stimmte. „Ich habe es kapiert“, sagte Cameron damals trotzig.

Seither brachte seine Regierung keine einzige nennenswerte außenpolitische Initiative mehr im Parlament ein. Als das Unterhaus im Oktober mit großer Mehrheit für die Anerkennung von Palästina als unabhängiger Staat stimmte, beeilte sich das Außenministerium mitzuteilen, dass das Votum „rein symbolischen Charakter“ habe. Politische Führung sieht anders aus.

Tatsache ist, dass die britische Öffentlichkeit nach dem Interventionismus unter der Labour-Regierung von Tony Blair, nach dem Kosovo, Afghanistan und dem Irak, der außenpolitischen Abenteuer müde ist: Fast zwei Drittel lehnen heute in Umfragen diese Politik ab. Dafür fehlen mehr denn je auch die Grundlagen: Die Militärausgaben schrumpften in den letzten fünf Jahren um 25 Prozent und drohen in Kürze unter den Nato-Mindestbetrag von zwei Prozent des BIPs zu fallen. Die Streitkräfte haben den geringsten Personalbestand seit den napoleonischen Kriegen, das Land baut derzeit einen Flugzeugträger, für den es keine Senkrechtstarter mehr hat. Ähnlich trist sieht es in der Diplomatie aus. Das Oberhaus kritisiert in seinem Ukraine-Bericht den „Verlust an Kompetenz“ durch dramatische Einsparungen.

Ausgerechnet die konservativ geführte Regierung setzte mit ihrer drastischen Sparpolitik damit die größte pazifistische Wende in Großbritannien seit 1945 durch. Russische Bomber testen wiederholt die Abwehrfähigkeit der britischen Streitkräfte. Das Land hat aber nur mehr drei Fliegergeschwader. Camerons Fähigkeit, Taten durch Worte zu ersetzen, hilft im Ernstfall wenig. Er wolle die Provokationen „nicht überbewerten“, sagt er, während sein Verteidigungsminister, Michael Fallon, Säbel rasselnd vor finsteren russischen Absichten im Baltikum warnt. „Keiner nimmt uns mehr ernst“, klagt da ein britischer General, der lieber anonym bleiben will.

Isoliert in der EU

Zum Verlust außenpolitischen Gewichts trug schließlich auch der Europakurs der Regierung bei. Cameron hat sich mit seiner Politik immer weiter isoliert – vom Austritt der Konservativen aus der Fraktion der Europäischen Volkspartei bis zu der angekündigten Volksabstimmung über den Verbleib Großbritanniens in der EU. Ian Bond vom Londoner Thinktank Centre for European Reform meint: „Je mehr wir davon besessen sind, Europa negativ zu sehen, umso weniger wollen wir uns konstruktiv einbringen.“ Die oppositionelle Labour Party wirft Cameron zwar vor, „für den größten Verlust an Einfluss in Europa seit 20 Jahren“ verantwortlich zu sein, wie es der außenpolitische Sprecher Douglas Alexander formuliert.

Doch noch lange hat die Partei nicht das Glashaus verlassen, in das sie das Land unter Blair geführt hat. Alexander ist einer der wenigen Labour-Politiker, der öffentlich einräumt, dass „erst mit einem Eingeständnis der Fehler der Vergangenheit ein Neuanfang möglich“ sein wird. Von Parteichef Ed Miliband heißt es dagegen nur, er „macht nicht Außenpolitik“.

Entsprechend ist die Außenpolitik im Wahlkampf mit Ausnahme der EU-Frage kein Thema. Das Volk scheint seinen Politikern da wieder einmal einen Schritt voraus. In einer Umfrage des außenpolitischen Thinktanks Chatham House sagen 69 Prozent der Befragten, Großbritannien habe eine „Verpflichtung zur Aufrechterhaltung der internationalen Sicherheit“. Stewart meint: „Wir dürfen die Fehler der Vergangenheit nicht als Ausrede für ein Abgleiten in Untätigkeit verwenden.“

Nach dem Ende des British Empire sagte der damalige US-Außenminister Dean Acheson 1962: „Großbritannien hat ein Imperium verloren und noch keine Rolle gefunden.“ Mehr als 50 Jahre danach ist man in London immer noch auf der Suche.

Auf einen Blick

Großbritanniens Premier, David Cameron, hat sich – laut Kritikern – von der außenpolitischen Weltbühne abgemeldet. Im Ukraine-Konflikt hat sich die einstige Weltmacht kaum zu Wort gemeldet. Auch im Kampf gegen den IS hält sich Europas zweitgrößte Militärmacht zurück.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.02.2015)

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