Ukraine: Krim-Annexion schon vor Jahren angedroht

File photo of a participant wearing a sticker with the word ´Obey!´ during an opposition protest on Revolution square in central Moscow
File photo of a participant wearing a sticker with the word ´Obey!´ during an opposition protest on Revolution square in central Moscow(c) REUTERS (DENIS SINYAKOV)
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Pläne, die Ukraine zu zerlegen, gibt es in Moskau seit mindestens 2008. Konkret wurden sie in der Endphase von Präsident Janukowitsch. Dass nicht spontan entschieden wurde, wie gern behauptet wird, lässt auch die Börse vermuten.

Wien. In der Diskussion darüber, ob Moskau die Unterstützung separatistischer Bewegungen in der Ukraine von langer Hand geplant oder erst nach der Flucht des ukrainischen Ex-Präsidenten Viktor Janukowitsch spontan entschieden hat, deuten neue Papiere auf Ersteres hin. Zumindest Überlegungen zu einer solchen Lenkung der Ereignisse scheinen schon Jahre vor der vorjährigen Annexion der Krim bestanden zu haben. So ist einem Papier russischer Geheimdienstquellen, das der „Presse“ bereits vor fünf Jahren zugespielt wurde, zu entnehmen, dass der damalige russische Botschafter in der Ukraine, Viktor Tschernomyrdin, Moskaus diesbezügliche Überlegungen im Gespräch mit der damaligen ukrainischen Premierministerin, Julia Timoschenko, warnend mitgeteilt hat. Das Gespräch habe am 4. Februar 2008 stattgefunden. Thema sei der damals vehement vorangetriebene Nato-Beitritt gewesen. „Tschernomyrdin erklärte, dass weder der jetzige Präsident (Putin), noch dessen Nachfolger (Medwedjew), einen Beitritt der Ukraine zur Nato hinnehmen würden.“ Neben Wirtschaftssanktionen „werde Russland seinen militärischen Einfluss nutzen, innerhalb der Ukraine separatistische Bewegungen zu unterstützen. Russland werde die Ostukraine und die Krim in ihren Unabhängigkeitsbestrebungen bzw. ihren Bestrebungen zum Anschluss an Russland unterstützen.“

Drohungen aus früher Zeit

Timoschenkos Sprecherin, Natalja Lysova, erklärte gestern auf Anfrage, es habe diese Aussagen nicht gegeben. Eine Stellungnahme von der russischen Botschaft in Kiew war nicht zu bekommen.

Unplausibel sind die im Geheimdienstpapier dargelegten Pläne Moskaus nicht. Die Möglichkeit eines Nato-Beitrittes der Ukraine hat Moskau damals in Rage gebracht. Und im April 2008 drohte Kremlchef Wladimir Putin, die Ostukraine und die Krim zu annektieren. Die russische Zeitung „Kommersant-Daily“ schrieb damals über Putins Aussagen während des Nato-Russland-Rats in Bukarest: „Als aber das Gespräch auf die Ukraine kam, geriet Putin in heftige Erregung. An Bush gewandt sagte er: ,Du verstehst doch, George, dass die Ukraine nicht einmal ein Staat ist! Was ist die Ukraine? Ein Teil ihrer Territorien ist Osteuropa und ein Teil, und zwar ein beträchtlicher, wurde von uns geschenkt!‘ Und er gab sehr deutlich zu verstehen, dass, wenn man die Ukraine trotzdem in die Nato aufnehmen werde, dieser Staat einfach aufhören werde zu existieren.

Wirtschaft als Motiv

Nicht mehr ein Nato-Beitritt, sondern die bevorstehende Machtergreifung EU-freundlicher Kräfte in Kiew hat dann zu Beginn des Vorjahres im Kreml offenbar zu einer regen Thematisierung eines russischen Eingreifens geführt. Wie einem Dokument zu entnehmen ist, das als Strategiepapier des Kreml gilt und dieser Tage von einer angeblich zuverlässigen Kreml-Quelle der oppositionellen russischen Zeitung „Nowaja Gaseta“ zugespielt worden ist, habe Moskau die Eskalation in der Ukraine explizit geplant, und zwar schon vor der Flucht Janukowitschs Ende Februar 2014. Sehr detailliert wird darin dargelegt, wie Russland „pragmatisch“ werden, auf die „geopolitischen Herausforderungen“ reagieren und mit den „zentrifugalen Bestrebungen“ spielen müsse. Argumentiert wird dies mit dem drohenden Verlust des ukrainischen Marktes und des Zugriffs auf das dortige Gasleitungsnetz – ein Risiko für Russlands Wirtschaft und die Position des Gaskonzerns Gazprom in Zentral- und Südeuropa. Auffällig ist, dass in dem Dokument weder an eine ideologische Aufbereitung der Einmischung noch einen militärischen Einsatz gedacht ist. Die Anleitung zum Schüren des zivilen Widerstandes deckt sich freilich mit dem späteren Vorgehen.

Handel mit Insiderinformationen

Sollte es das Papier geben, so hätte es nichts mit der offiziellen russischen Position zu tun, so Putins Sprecher.

In der Tat gilt als unsicher, ob Putin das Papier überhaupt gesehen hat. Laut „Nowaja Gaseta“ soll es zwischen dem 4. und 12. Februar 2014 im Kreml eingegangen sein – drei Wochen vor Janukowitschs Flucht und einen Monat vor der Annexion der Krim.

Es musste nicht konkret dieses Strategiepapier sein, das Putin gesehen hat. In dieser Zeit nämlich seien zahlreiche solche Papiere von Moskauer Thinktanks ausgearbeitet worden, so der russische Publizist Leonid Berschidski in „Bloomberg View“. Und offenbar sind sie auch bei Investoren als Insiderinformation angekommen. Wie nämlich zwei Doktoranden der Cornell University eruierten, sei der sogenannte VPIN-Indikator, der das Ausmaß des Insiderhandels darzustellen versucht, in den Tagen vor der russischen Entscheidung hinsichtlich des Vorgehens in der Ukraine rasant gestiegen: Offenbar hätten Kreml-nahe Investoren gewusst, dass Russland intervenieren wird, und hätten daher russische Aktien zu verkaufen begonnen, so der Schluss. Am 3. März, als Russlands Entscheidung bekannt wurde, stürzte der Leitindex RTS um 14 Prozent ab.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.02.2015)

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