Reportage: „Auf der Krim bleiben und überleben“

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Die meisten Krimtataren lehnten die russische Annexion der Halbinsel im März 2014 ab. Seither hat der Druck auf die Volksgruppe zugenommen: Gegen Politiker wurden Einreiseverbote erlassen, gegen Vereine Verfahren eingeleitet.

Safinar Dschemilewa hat schon viel erlebt, und selten kann sie etwas aus der Fassung bringen. Sie wurde im usbekischen Exil geboren, und lang hieß es, sie würde niemals in ihre Heimat zurückkehren können. Sie kehrte zurück. Sie lebte in einem Imperium, von dem es hieß, es würde nie untergehen. Es ging unter. Nun lebt Dschemilewa in der Heimat ihrer Vorfahren, auf der Krim, aber die Krim ist seit einem Jahr ein Teil Russlands. „Auch das geht wieder vorüber“, sagt sie.

Dschemilewa ist eine Dame in ihren Sechzigern, sie trägt Hosen und ihr haselnussbraunes Haar halblang. Um ihren Hals hat sie ein türkisfarbenes Tuch geschlagen, das mehr politisches Statement ist als modisches Accessoire. Türkis ist die Flagge der Krimtataren, und sie hängt auch hier an der Wand im Büro der Liga der krimtatarischen Frauen in einem einstöckigen, verwitterten Gebäude an der Hinterseite eines Wohnblocks im Zentrum von Simferopol. „Unsere Aufgabe ist es, hier auf der Krim zu bleiben und als Volksgruppe zu überleben“, sagt sie.

Für die Rückkehr auf die Krim haben sie und ihr Mann, der Tatarenführer Mustafa Dschemilew, jahrelang gekämpft. Im Juli 1987 standen die beiden mit anderen Krimtataren auf dem Roten Platz und demonstrierten für die Rückkehr der von Stalin 1944 kollektiv verbannten Krimtataren. Zwei Jahre später gehörten sie unter der Perestrojka-Politik Gorbatschows zu den Ersten, die auf die Halbinsel zurückkehrten. 300.000 Tataren leben nun hier, zwölf Prozent der 2,3 Millionen Krim-Bewohner. Dem ukrainischen Staat waren die tatarischen Rückkehrer stets dankbar: Hilfe konnten sie zwar keine erwarten, doch legten die Behörden ihnen wenigstens keine Hindernisse in den Weg. Seit der russischen Annexion der Krim im vergangenen März sind neue, unsichere Zeiten angebrochen. Vor einem Jahr, als Mitte März die militärische Invasion durch russische Truppen mit einem Referendum abgesegnet wurde, standen in vielen Tataren-Wohnungen die Koffer gepackt. Geschätzte 10.000 Tataren sind in die Festland-Ukraine ausgereist. Die neuen Machthaber der Krim würden alle Tataren am liebsten loswerden wollen, munkeln viele.

Nach außen hin sind die Signale der russischen Behörden zumindest widersprüchlich. Zwar hatte Präsident Wladimir Putin im vergangenen April per Dekret die Rehabilitierung der Krimtataren angeordnet; praktisch ist seither wenig passiert, sagen Betroffene. Der Tatarisch-Unterricht an Schulen ist wie eh und je lückenhaft. Nur ein Drittel der Kinder haben laut der Tataren-Vertretung Medschlis Zugang zu muttersprachlichem Unterricht. Und obwohl Krimtatarisch offiziell den Status einer Staatssprache hat, ist sie im Behördenkontakt kaum in Gebrauch.

„Er ist in Kiew, und ich hier“

Politischen Druck bekommen vor allem Tatarenvertreter zu spüren. Mustafa Dschemilew hat seine Heimat zum zweiten Mal verloren: Die russischen Behörden haben ihn im Vorjahr zur Persona non grata auf der Krim erklärt und ihm ein Einreiseverbot bis April 1919 erteilt. „Er ist in Kiew, und ich hier“, sagt seine Frau einsilbig, wenn man sie zu ihrer familiären Lage befragt. „Wir telefonieren öfters.“ Ihr Mann, weiterhin Abgeordneter im ukrainischen Parlament, kämpfe „wie ein Bollwerk für die Sache der Krimtataren“.
Wenn man Dschemilew kennt, weiß man, dass er alles andere wie ein Bollwerk aussieht, er ist ein kleiner, drahtiger, beinahe verletzlich wirkender Mann. Er saß im Gefängnis, wurde bespitzelt. Gebrochen hat man ihn nicht.
Als Treffpunkt nennt Nariman Dschelalow ein krimtatarisches Restaurant. „Um diese Uhrzeit ist es hier ruhig und leer, sodass niemand stören kann“, sagt der Vizevorsitzende der Tatarenvertretung Medschlis. Das Büro des Medschlis wurde behördlich geschlossen, der Organisation droht eine hohe Geldstrafe wegen angeblicher unsachgemäßer Renovierungsarbeiten. „Jetzt arbeiten wir nur noch von unterwegs“, sagt Dschelalow, ein Mann Anfang 30 mit Augengläsern in dünner Metallfassung und Strickjacke. Ihm obliegt die schwierige Aufgabe der Vertretung der Krimtataren in dieser Zeit.

Was Dschelalow mit ruhiger Stimme und in sorgfältig gewählten Worten erzählt, klingt beunruhigend. Ein hohes Mitglied der Tatarenorganisation befindet sich in Untersuchungshaft, ihm wird vorgeworfen, am 26. Februar 2014, als tausende Tataren gegen die bevorstehende prorussische Machtübernahme demonstriert haben, gegen russisches Demonstrationsrecht verstoßen zu haben. Damals galt noch die ukrainische Jurisdiktion. Laut Dschelalow könnten in dem Fall 30 weitere Verhaftungen bevorstehen. Auch zu Durchsuchungen von Privathäusern und Moscheen wegen angeblicher „extremistischer Literatur“ kam es zuletzt vermehrt. Die letzte öffentliche Veranstaltung wurde Ende Juni 2014 bewilligt, seither keine mehr. „Wir müssen uns wohl etwas anderes einfallen lassen“, sagt Dschelalow.

Politisch ungefährliche Konkurrenz

An die Strategie „Teile und herrsche“ erinnern die Entwicklungen im politischen Spektrum. Innerhalb eines Jahres sind mehrere Konkurrenten zur traditionellen Medschlis-Vertretung entstanden. Von Behördenseite wird Druck gemacht, einen neuen, den Krim-Behörden loyal gesinnten Anführer zu wählen – während der Vorsitzende, Refat Tschubarow, ebenfalls mit einem Einreiseverbot belegt wurde. Der Wunschkandidat für den Posten heißt Remsi Iljasow. Der Anführer der Bewegung Krim ist Vizevorsitzender des Republikparlaments. Dschelalow will sich dem Druck nicht beugen. Doch schlägt er eine pragmatischere Gangart vor als der in Kiew gestrandete Mustafa Dschemilew. „Wir sind kein Volk von Dissidenten“, sagt er. Zweifellos lebten die Tataren auf der Krim heute unter russischer Gesetzgebung. „Das heißt aber auch, dass die Russische Föderation für den Schutz der Menschen- und Bürgerrechte der Krimtataren verantwortlich ist.“ Ohne russischen Pass und Sozialversicherung sei das Leben auf der Krim heute so gut wie unmöglich. „Über konkrete Fragen treten wir mit den Behörden in einen Dialog.“ Von der grundsätzlich kritischen Haltung will er aber nicht abrücken.

Auch aus dem nahen Bachtschisaraj, der einstigen Hauptstadt zu Zeiten des Krim-Khanats, sind Klagen zu hören. Dass sich der Ort in den letzten Jahren zu einem Touristenziel entwickelt hat, ist den lokalen Besitzern von Restaurants und Pensionen zu verdanken. Sie sprechen nun von Behördenschikanen. „Und wir dachten, dass die schwierigen Zeiten schon hinter uns liegen“, sagt eine Unternehmerin, die anonym bleiben will.

Ums Überleben kämpft ein weiteres krimtatarisches Unternehmen: der private TV-Sender ATR, der auf Russisch, Ukrainisch und Krimtatarisch sendet. Seine Redaktionsräume an einer zugigen Ausfallstraße Simferopols wurden Ende Jänner zum Schauplatz eines Einsatzes der Spezialpolizei Omon. Maskierte Männer drangen in das Büro ein und beschlagnahmten Filmaufnahmen der Ereignisse vom 26. Februar 2014. Schefket Mechmetow, ein Mann mit grauem Anzug und grauem Haar, sieht darin vor allem eine Schikane. „Die Aufnahmen sind auf der Webseite abrufbar“, sagt der geschäftsführende Direktor. Nach zwei Tagen bekam man das Material zurück. Kommentarlos.

ATR wurde eine neue Sendelizenz nach russischem Gesetz bereits zwei Mal verwehrt. Am 1. April endet die Frist, und Mechmetow ist nicht optimistisch. „Bisher hat man immer einen neuen Grund gefunden, uns die Lizenz zu verweigern.“ Ohne Lizenz muss der Sender schließen. Offen teilten die Krim-Behörden Mechmetow mit, was sie sich vom Sender wünschten: konstruktive, positive Nachrichten, ein Medium, das sich klar auf die Seite der Machthabenden stelle. Und die türkisfarbene Fahne der Krimataren, die als Emblem rechts im Bild weht, solle bitte um die russische ergänzt werden.

Zur Person

Nariman Dschelalow ist Vizevorsitzender des Medschlis, des Selbstverwaltungsorgans der Krimtataren. Meschlis-Vorsitzender Refat Tschubarow darf nicht mehr auf die Krim einreisen. Einem weiteren Führungsmitglied, Achtem Tschijogs, wird von den russischen Behörden ein Verstoß gegen russisches Demonstrationsrecht vorgeworfen. Er befindet sich derzeit in U-Haft. Das Gebäude des Medschlis in Simferopol wurde konfisziert und ist nicht mehr zugänglich.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.03.2015)

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