Die Moskauer Zeitung „Nowaja Gazeta“ ist für furchtlosen Journalismus bekannt. Jetzt steht das Blatt vor dem Aus. Grund ist die Wirtschaftskrise.
Gleich hinter dem Eingang verläuft quer die Stalin-Straße. Als bitterer Scherz über einen der Dämonen, die Russlands Gesellschaft noch immer umtreiben. Die Redaktion der Moskauer Zeitung „Nowaja Gaseta“ (Neue Zeitung) hat das Gewirr ihrer Gänge mit Straßenschildern versehen. Vor dem Zimmer der Chefredaktion wird der berühmtesten Journalistin der Zeitung mit dem Anna-Politkowskaja-Platz gedacht. Die „Nowaja“ ist eine Institution für alle, die einen investigativen und furchtlosen Journalismus schätzen; ein kleines Bollwerk gegen den breiten Informationsstrom, der die Weltsicht des Kremls durch das Land trägt. Im Mai könnte ihr Ende gekommen sein.
Es wäre nicht der Staatsanwalt, der auf politischen Auftrag die Redaktion durchwühlt, oder der Feuerinspektor, der mit vorgeschobenen Brandschutzmängeln die Eingangstür versiegelt. Die Redaktion muss womöglich selbst ihr Erscheinen einstellen. Es fehlt an Geld. Denn die Zeitung hat einen neuen Feind: die Wirtschaftskrise. Der abgewertete Rubel verteuert Importe wie Farben oder Ersatzteile für die Druckereien und treibt die Inflation in die Höhe. Eigentlich könnte sie das noch verkraften – wenn es einen funktionierenden Pressemarkt gäbe.
Auf den ersten Blick sieht die Zeitungslandschaft Russlands blühend aus: „Etwa 40.000 Zeitungen gibt es“, erklärt der stellvertretende Chefredakteur der „Nowaja“, Andrej Lipskij. „Aber der Löwenanteil daran ist staatlich. Vor allem in den Regionen haben viele Zeitungen winzige Auflagen und werden aus dem Futtertrog der örtlichen Macht verpflegt.“ Voraussetzung ist oft ein Vertrag zwischen Redaktion und dem Bürgermeister oder Gouverneur über „Informationszusammenarbeit“: Geld gegen PR-Texte. „Da zeigt eine Ausgabe dann fünf bis sieben Fotos des Gouverneurs“, sagt Lipskij, „der mal Kinder streichelt, mal Tauben füttert oder Traktoren übers Feld lenkt.“
Auch die nationalen Zeitungen, die sich loyal zum Kreml zeigen, können mit Zuschüssen aus dem Staatsbudget rechnen. Das hat den Markt zerrüttet. Die „Nowaja“ kämpft mit weiteren Widrigkeiten: Die Zahl der Zeitungskioske sinkt. Abonnements bringen nur geringe Einnahmen, da der Austräger, die russische Post, zu den kaum modernisierten Kolossen der Sowjetwirtschaft gehört. Die Mittwochsausgabe liegt oft erst am Freitag im Briefkasten.
Finanzloch. Schon früher hangelte sich die Zeitung von Finanzloch zu Gehaltskürzung. Aber diesmal ist es todernst. Einer der Hauptfinanziers, der Bankier Alexander Lebedjew, hat vor gut einem Jahr alle Zahlungen eingestellt, nachdem er durch Intrigen gegen seine Bank und Fluglinien getroffen wurde. Lebedjew hält noch 39 Prozent der Anteile an der „Nowaja“, die Mehrheit gehört dem Redaktionskollektiv. Zehn Prozent besitzt der frühere sowjetische Präsident Michail Gorbatschow.
Als Internetzeitung wäre die „Nowaja“ nicht lebensfähig, Spendenaktionen würden nur kurzzeitig Aufschub verschaffen. Staatsgelder lehnt die Chefredaktion ab: „Kostenloser Käse“, sagt Lipskij, „führt direkt in die Mausefalle.“ Anzeigenkunden bevorzugen Kreml-loyale Zeitungen, denn sie fürchten Probleme mit den Behörden oder mögen die „Nowaja“-Artikel rund um die Anzeigen nicht: „Zu negativ!“, heißt es.
Widerstand war schon immer ein Leitwort der Redaktion: Am 1. April 1993 brachten Journalisten, die zuvor die Zeitung „Komsomolskaja Prawda“ wegen eines zu Kreml-freundlichen Kurses verlassen hatten, die erste Ausgabe der „Nowaja“ heraus. Die Computer finanzierte damals Gorbatschow. Trotz aller Drohungen und Gerichtsprozesse überlebte die Zeitung. Aber sechs ihrer Mitarbeiter wurden getötet, darunter die berühmte Politkowskaja.
Tatsächlich bietet die Zeitung keine leichte Lektüre. „Wir haben leider viele Albträume im Blatt“, sagt Lipskij. „Aber es gibt auch Seiten über Kultur, die gerade wieder aufblüht.“ Nur bleibt das Markenzeichen der „Nowaja“ die Berichterstattung über Korruption, Unfähigkeit der Behörden und Machtmissbrauch. Die Liste der journalistischen Enthüllungen ist lang: vom Kreml-Finanzskandal um die Firma Mabetex in der Amtszeit des Präsidenten Boris Jelzin bis zum Mord an tschetschenischen Zivilisten durch russische Militärs. Zuletzt veröffentlichte die „Nowaja“ einen detaillierten Plan zur russischen Intervention in der Ukraine, der schon Anfang Februar 2014 Präsident Wladimir Putins Verwaltung vorgelegen haben soll, und das Interview mit einem russischen Panzersoldaten, der offen von seinem Kampfeinsatz in der Ostukraine berichtete.
Berühmt ist die Aussage eines Redakteurs: „Die Zeitung malt ein solch schwarzes Bild vom Leben in Russland, dass ich jedes Mal, wenn ich sie lese, daran denke, mich aufzuhängen.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.03.2015)