IS-Ideologie: Die mörderische Coolness des Jihad

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Frühislamische Heldenepen, abenteuerliche Apokalyptik und religiöse Selbstermächtigung machen den Islamischen Staat zu einer Kraft, die rein militärisch nicht zu besiegen sein wird.

Hassan Hassan sitzt in einem knallvollen Konferenzsaal des Woodrow Wilson Center, zwei Blöcke vom Weißen Haus entfernt, und sagt seinem Publikum aus Journalisten, Diplomaten und Sicherheitsexperten etwas, was man von Vertretern offizieller moslemischer Interessenvertretungen nur selten hört: „Die Debatte, derzufolge der Islamische Staat nichts mit dem Islam zu tun habe, ist eine rein westliche Debatte. Im Nahen Osten erkennt man hingegen, dass wir ein Problem mit dem Islam haben.“

Der Islamische Staat im Irak und al-Sham, wahlweise als IS oder Isis abgekürzt und die bisher wohl mörderischste Ausformung des jihadistischen Terrorismus, ist für Hassan eine höchst persönliche Angelegenheit. Der Politik- und Konfliktforscher am Delma Institute in Abu Dhabi ist aus der syrischen Stadt Albu Kamal gebürtig, die seit Jahren zwischen Syrien und dem Irak als Drehtür für Jihadisten dient: erst für jene, die Syriens Diktator Bashar al-Assad in den Irak schickte, um die amerikanische Besatzungsmacht zu terrorisieren. Dann, ein paar Monate vor dem Abzug der letzten US-Soldaten aus dem Irak Ende 2011, sickerten Gotteskrieger aus dem Irak über Grenzstädte wie Albu Kamal in Syrien ein. Seit knapp neun Monaten ist Hassan Hassans Geburtsstadt in den Händen des IS.

Gemeinsam mit dem Kriegsreporter Michael Weiss hat er die Genese, Struktur und Ideologie des IS studiert. Das Ergebnis Dutzender Interviews mit aktiven und ehemaligen IS-Kämpfern, nahöstlichen und westlichen Geheimdienstleuten und Militärs sowie syrischen und irakischen Bürgeraktivisten ist vor Kurzem in Buchform erschienen. „ISIS: Inside the Army of Terror“ (Regan Arts, New York) ist der bisher tiefgründigste Versuch zu erklären, wie eine zunächst überschaubare Gruppe religiöser Fanatiker ein Gebiet erobern konnte, das so groß ist wie Belgien.

Apokalypse in Syriens Wüste

Das Problem mit dem Islam, von dem Hassan spricht, liegt in erster Linie im Glaubwürdigkeitsverlust der meisten moslemischen Glaubensführer im Nahen Osten: „Der Großteil des klerikalen Establishments ist entweder aufseiten der autoritären Regime oder anderweitig zutiefst diskreditiert. Der Zusammenbruch des klerikalen Establishments während des Arabischen Frühlings hat die Möglichkeit eröffnet, dass sich ein toleranter Islam herausbildet. Aber die einzige Gruppe, die bisher von dieser Privatisierung des religiösen Diskurses profitiert hat, ist Isis.“

Er füllt das hermeneutische Vakuum mit einer ebenso brutalen wie glasklaren Ideologie, an deren Anfang die Siegeszüge der ersten Kalifen im 7. Jahrhundert stehen und die in einer Apokalypse gipfelt, in der die Heere des Islam eine Art von Anti-Messias in Jerusalem besiegen. Zuvor allerdings werde es eine Schicksalsschlacht zwischen den Heerscharen Roms und jenen des Islam geben, und zwar in der Wüste außerhalb der nordsyrischen Stadt Dabiq. Es ist kein Zufall, dass die medial inszenierten Enthauptungen westlicher Geiseln genau hier stattfanden. „Dabiq“ ist auch der Name des IS-Magazins.

Der Zeitpunkt dieses Armageddons ist ungewiss, klar ist den Anhängern des IS jedoch, dass es nur zwölf legitime Kalifen gebe, wie Graeme Wood im Magazin „The Atlantic“ in Erinnerung ruft. Denn so steht es in einem Hadith, also einem der überlieferten angeblichen Aussprüche Mohammeds. Abu Bakr al-Baghdadi, der sich 2014 zum Kalifen ausrufen ließ, sei der achte der zwölf.

Dieses Weltbild fußt auf sunnitischen Glaubenstraditionen und Geschichten. Als Beispiel dafür nennt Hassan Khaled Ibn al-Walid, den Heerführer des ersten Kalifen, Abu Bakr. Im Jahr 633 rang er in der Schlacht von Ullais (nahe der heutigen irakischen Stadt Najaf) mit dem hartnäckigen Widerstand der Perser. „Oh Herr!“, wandte er sich der Überlieferung zufolge an Allah, „Wenn Du uns den Sieg schenkst, werde ich dafür sorgen, dass keiner der feindlichen Krieger am Leben bleibt, bis der Fluss rot von ihrem Blut ist!“ Al-Walids islamische Armee gewann, und er befahl, alle Gefangenen enthaupten zu lassen.

„Kein sunnitischer Kleriker würde es wagen, gegen Khaled al-Walid zu argumentieren“, gibt Hassan zu bedenken. Die IS-Kleriker wiederum führen diese Mär vom „Fluss aus Blut“ als theologische Legitimation für die Ermordung von Kriegsgefangenen an: etwas, was der Koran eigentlich verbietet.

Der Koran ist nebensächlich

Deshalb ist Mohammeds Buch für den IS nicht der zentrale Bezugspunkt, erklärt Hassan. Das würde den Apokalyptikern des Kalifats nämlich paradoxerweise ähnliche Auslegungsprobleme verursachen, wie sie gemäßigte muslimische Gläubige zu lösen haben, wenn sie friedfertige mit kriegerischen Koranpassagen in Einklang zu bringen versuchen.

Vor allem würde es den zentralen Mechanismus der terroristischen Einschüchterung der IS-Armee schwächen: den Takfirismus, also das Exkommunizieren angeblicher Ungläubiger. Erobert der IS eine Stadt, gibt es für die Menschen nur zwei Möglichkeiten: flüchten oder Gefolgschaft leisten („baya'a“). Doch für die Schiiten ist Letzteres unmöglich. Sie sind die erklärten Todfeinde des IS und vogelfrei. Auch dafür finden sich in der sunnitischen Glaubensgeschichte Quellen. Hassan und Weiss zitieren in ihrem Buch Ibn Taymiyyah, einen Kleriker aus dem 13. Jahrhundert, der den Salafismus, dem der IS zugehörig ist, wesentlich geprägt hat: „Hütet euch vor den Schiiten, bekämpft sie, sie lügen!“

Hassan zieht aus seinem Studium des IS eine ernüchternde Quintessenz: „Es entsteht eine neue jihadistische Form der Coolness. Isis hat eine Ideologie, eine Theologie, Bücher, auf die er sich beruft. In dieser Form glaube ich nicht, dass er so bald verschwinden wird.“ Diversen Deradikalisierungsprogrammen bescheinigt er geringe Erfolgsaussichten: „IS-Anhänger sind immun gegenüber moderater Theologie. Ich bin davon überzeugt, dass Leute, die sich Isis anschließen und später behaupten, ausgestiegen zu sein, so gut wie sicher entweder lügen oder nie wirkliche Mitglieder waren.“ Für mindestens ein Jahrzehnt, meint er, werde sich der IS als Besatzungsmacht in der Region halten, als Ideologie wohl noch länger: „Ich denke nicht, dass Isis auf dem Rückzug ist. Er ist expansionistisch, er ist genozidal und eine existenzielle Bedrohung für eine Menge Leute, die seiner Ideologie widersprechen.“

Zur Person

Hassan Hassan hat gemeinsam mit dem Kriegsreporter Michael Weiss Genese, Struktur und Ideologie des IS studiert. Das Buch „ISIS: Inside the Army of Terror“ erschien bei Regan Arts.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.03.2015)

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