Nigeria: Wo ein Ex-Diktator zum Hoffnungsträger wird

Supporters of presidential candidate Buhari hold his election posters in Kano
Supporters of presidential candidate Buhari hold his election posters in Kano (c) REUTERS
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Muslime feiern Ex-Staatschef Buhari wie einen Erlöser. Kann er Frieden bringen? Stimmungsbericht aus einem zerrissenen Land.

Gloria Golmun sitzt in ihrem kleinen Innenhof und grillt Fisch. Früher stand das teure Gericht bei ihrer Familie häufig auf dem Speiseplan. Doch früher musste sie auch nur ihren Mann und ihre vier Kinder bekochen. Jetzt sind 20 weitere Menschen hinzugekommen, Familienangehörige und Freunde, die vor dem Terror von Boko Haram geflüchtet sind. Golmun lebt in Yola, einer der wenigen relativ sicheren Städte im Nordosten Nigerias. „Was Boko Haram macht, hat mit Religion nichts zu tun“, sagt die Christin, die auch Muslime aufgenommen hat. „Die Muslime beten in ihren Moscheen, die Christen in den Kirchen. Trotzdem leben hier in Yola alle friedlich zusammen. Das ist hier schon seit Jahren so und völlig normal.“

UNHCR, das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, geht von rund 1,5 Millionen Binnenflüchtlingen aus – und von etwa noch einmal so vielen Menschen, die das Land verlassen haben. Die meisten von ihnen kommen bei Bekannten unter, denn staatliche Unterstützung gibt es kaum. Nigeria ist nach Syrien und Kolumbien das am stärksten von Heimatflucht betroffene Land der Welt. Auch Ginta Musa musste ihre Heimat verlassen, nachdem ihr Dorf von Boko Haram attackiert wurde. Auch sie wurde von Gloria Golmun aufgenommen. Seitdem isst sie kaum, kann nicht mehr schlafen. „Ich habe plötzlich Schüsse und Explosionen gehört, also bin ich einfach losgerannt“, sagt sie und starrt ins Leere. „Bis heute weiß ich nicht, wo meine beiden Kinder sind.“

Terrorhochburg zurückerobert

2009 eskalierte der Konflikt zwischen der islamistischen Sekte Boko Haram und dem Staat. Die Islamisten stellten sich in ihren Anfangsjahren gern als religiöse Bewegung dar, die den Unterdrückten Nigerias eine Stimme verlieh. Dies bescherte Boko Haram zunächst gewisse Sympathien in der überwiegend muslimischen Bevölkerung Nordnigerias. Doch diese Sympathien verpufften über die Jahre schnell, als die Jihadisten immer skrupelloser wurden und begannen, ganze Dörfer zu überfallen, um junge Männer für ihren Kampf zwangszurekrutieren und junge Frauen als Sexsklavinnen zu missbrauchen. Mehr als 13.000 Menschen, überwiegend Muslime, sind in den vergangenen fünf Jahren ihren Grausamkeiten zum Opfer gefallen.

Regierung und Militär hatte der Terrorgruppe jahrelang kaum etwas entgegenzusetzen. Präsident Goodluck Jonathan saß es einfach aus, als vergangenes Jahr mehr als 200 Schülerinnen im nordostnigerianischen Chibok entführt wurden. Bis heute werden sie vermisst. Doch plötzlich kam der Wendepunkt: Die Präsidentschaftswahlen wurden aus Sicherheitsgründen von Mitte Februar auf den 28. März verschoben. Das Militär, so die Begründung, brauche die Zeit, um eine Großoffensive gegen Boko Haram zu starten. Gemeinsam mit Soldaten aus dem Tschad und Niger wurde eine Stadt nach der anderen im Nordosten Nigerias von den Terroristen zurückerorbert. Am Freitag – nur einen Tag vor der Wahl – verkündete die Armee die Einnahme von Gwoza, einem zentralen Stützpunkt der Terrorgruppe. Auch wenn eine unabhängige Bestätigung bisher auf sich warten lässt, ist es ein Coup für Präsident Jonathan und seine Regierungspartei PDP, den People's Democratic Congress.

Jonathans Heimatstadt als Vorzeigeort

Seine Unterstützer findet Jonathan hauptsächlich in seiner Heimat: dem Nigerdelta im Süden Nigerias. In der kleinen Stadt Otuoke ist er zur Welt gekommen und aufgewachsen. Otouke wirkt wie das genaue Gegenteil der staubigen, heruntergekommenen Dörfer des Nordostens – fast wie ein Vorzeigeort gelungener Entwicklung. Die Straßenlaternen sind solarbetrieben, selbst Seitenstraßen sind asphaltiert, alles wirkt sauber und geordnet. Fast jeder hier lobt den Charakter des berühmten Sohnes des Ortes in den höchsten Tönen. Ein Weggefährte von damals beschreibt ihn als „bescheidenen, ehrlichen, nicht übermäßig ehrgeizigen Jungen“. Einige politische Beobachter, die ihm weniger wohlgesinnt sind, sprechen gern von einer „Reihe von Unfällen“, die Jonathan schließlich bis an die Spitze von Afrikas bevölkerungsreichstem Land gebracht haben.

In die Politik zog es den heute 57-Jährigen erst Ende der 1990er-Jahre. Als Mitglied der bereits damals regierenden Demokratischen Volkspartei PDP wurde Jonathan zum stellvertretenden Gouverneur seines Heimatbundesstaates Bayelsa gewählt. Vor allem sein Ruf als loyaler Parteifunktionär sorgte dafür, dass der damalige Präsident, Olusegun Obasanjo, zu Jonathans Förderer wurde. 2007 wurde Jonathan Vize-Präsident und knapp drei Jahre später, als Präsident Umaru Yar'Adua im Amt starb, schließlich zu Nigerias Staatsoberhaupt. Innerhalb weniger Jahre wurde aus dem politischen Nobody der Präsident von Afrikas größter Demokratie.

1958 wurde im Nigerdelta das erste Mal Öl gefunden. Seitdem ist die Region die Geldquelle, die das ganze Land am Leben hält. Mehr als 70 Prozent der Staatseinnahmen kommen aus dem Ölgeschäft. Dieses Geld teilt sich die Zentralregierung mit den Gouverneuren der 36 Bundesstaaten, die – je nach eigenen Prioritäten – mehr oder weniger die Entwicklung vorantreiben. In diesem Verteilungskampf sieht sich der Norden des Landes jedoch seit jeher als Verlierer. Dort hat der wichtigste Oppositionskandidat, Muhammadu Buhari von der APC, dem All Progressives Congress, seine Hochburgen.

Buhari will endlich „aufräumen“

Noch immer leben zwei von drei Nigerianern von weniger als zwei Dollar am Tag – in den ländlichen Gebieten des Nordens ist die Armut groß. Auch bei Nigerias ausufernder Korruption hat sich in den vergangenen Jahren nichts verbessert. Für das wirtschaftlich stärkste Land Afrikas ein Skandal, den Oppositionsführer Muhammadu Buhari im Wahlkampf immer wieder aufgreift. Der 72-jährige ehemalige Militärdiktator, der von vielen Muslimen im Norden wie ein Erlöser gefeiert wird, verspricht, er werde „endlich aufräumen“ im Staat. Dabei wettert er gegen die „Dekadenz“ des amtierenden Präsidenten, dessen Vermögen auf mehr als 90 Millionen Euro geschätzt wird. Nach einem Putsch gegen eine demokratisch gewählte Regierung war Buhari von Jänner 1984 bis August 1985 selbst Staatsoberhaupt. Er erklärte einen „Krieg gegen die Disziplinlosigkeit“, fast 500 Menschen kamen unter seiner Führung wegen Korruption und Verschwendung von Steuergeldern ins Gefängnis. Aber Muhammadu Buhari zeigte auch seine dunkle Seite als Diktator. Er ließ Menschen exekutieren, schikanierte die Medien, von einem Wandel hin zu einer demokratisch legitimierten Regierung wollte er nichts wissen. So haben viele Nigerianer bei der anstehenden Präsidentschaftswahl das Gefühl, sich für das geringere Übel entscheiden zu müssen.

Rosemary Lokosun und die Mehrheit ihrer Landsleute hoffen auf friedliche Wahlen. „Warum sollten wir hier wieder unser Blut vergießen, während die Politiker ihre Kinder zum Studium ins Ausland schicken?“, sagt die Restaurantbesitzerin in der Hauptstadt Abuja und spielt auf die fast 1000 Toten nach den Unruhen bei den letzten Präsidentschaftswahlen 2011 an.

Staatseinnahmen halbiert

Aufgrund der unsicheren Lage machen viele Investoren einen Bogen um das Land, viele Projekte liegen auf Eis. Zudem hat sich der Ölpreis – damit der Großteil der Staatseinnahmen – von Mitte 2014 bis heute halbiert. Ob der Wahlsieger es unter diesen Bedingungen schafft, Nigeria aus der Krise zu führen, bezweifeln die meisten Nigerianer.

DIE KANDIDATEN

Goodluck Jonathan ist seit 2010 Präsident Nigerias. Der Christ stammt aus dem Nigerdelta im Süden des Landes. Seine Amtszeit war vom Kampf gegen die Terrorgruppe Boko Haram geprägt.

Muhammadu Buhari ist der große Herausforderer bei der Präsidentenwahl. Buhari stammt aus dem muslimischen Norden und war schon einmal, von Jänner 1984 bis 1985, Präsident. [ Reuters (2)]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.03.2015)

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