Dilemma der Diplomatie

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Berlin ZDF Polit Talk Maybrit Illner Thema Putin NATO Griechenland Wer spaltet Europa Foto Nimago/Metodi Popow
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Regierungen auf der ganzen Welt streiten, ob sie den Genozid als solchen bezeichnen sollen.

Nun wird also auch in Berlin um das G- beziehungsweise V-Wort gestritten. „Was seit Langem Erkenntnis und Wissensstand ist, muss auch so benannt werden: Es hat vor einhundert Jahren einen Völkermord an den Armeniern gegeben“, sagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, der frühere Umweltminister Norbert Röttgen (CDU), zum „Tagesspiegel“. Röttgen appellierte an die Regierung unter seiner Parteikollegin Angela Merkel, die Vernichtung von rund 1,5 Millionen Armeniern vor 100 Jahren als Genozid zu bezeichnen. Sich um diese Feststellung eines heute historisch zweifelsfrei ausgeleuchteten Umstandes herumzudrücken, sei „weder tragfähig noch verantwortbar“.

Kanzlerin Merkel wird an der Gedenkfeier in Jerewan am 24. April nicht teilnehmen; Berlin entsendet Michael Roth, einen Staatssekretär aus dem Außenministerium (Österreich wird nur durch den Botschafter vertreten sein). Für Frankreich hingegen wird Präsident François Hollande anreisen. Das spiegelt die Bedeutung der armenischen Diaspora in der französischen Gesellschaft wider; der Chansonnier Charles Aznavour war zum Beispiel eine Zeitlang Armeniens Botschafter in der Schweiz.

In zwei Dutzend Staaten ist der damalige Genozid an den Armeniern in der Form parlamentarischer Entschließungen anerkannt. Frankreich wollte Anfang 2012 noch einen Schritt weiter gehen und die Leugnung dieses Völkermordes ebenso zu einem Straftatbestand machen, wie es die Leugnung der Shoa nach französischem Recht bereits ist. Das Verfassungsgericht erklärte dieses Gesetz allerdings schon wenige Wochen später für verfassungswidrig. Hollande erklärte vor einem Jahr, einen neuen Versuch unternehmen zu wollen. Er warnte davor, dass eine neuerliche Kassation nur den Feinden der Armenier in die Hände spielen würde.

Politisches Ritual. In den USA hat sich seit den 1980er-Jahren, wechselweise angetrieben von armenischen, türkischen und aserischen Lobbygruppen, ein politisches Ritual eingependelt: Jeder Präsidentschaftskandidat erklärt während der Kampagne, den Genozid als solchen anprangern zu wollen. Sobald er im Weißen Haus eingezogen ist, wählt er mit Rücksicht auf den NATO-Partner Türkei und dessen Schutzmachtbegehren hinsichtlich Aserbaidschans diplomatischere Worte. Das war bei Ronald Reagan so und seither bei all seinen Nachfolgern. „Als Präsident werde ich den armenischen Genozid anerkennen“, sagte der damalige Senator Barack Obama im Jänner 2008. Getan hat er es nicht. Und auch nächste Woche wird man in seiner jährlichen Stellungnahme zum 24. April das G-Wort vergeblich suchen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.04.2015)

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