Warum die Türkei nicht von Völkermord sprechen will

Armenier in einem Flüchtlingscamp in der Nähe von Bagdad, 1919
Armenier in einem Flüchtlingscamp in der Nähe von Bagdad, 1919(c) imago stock&people (imago stock&people)
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Sowohl die Regierungspartei als auch die größten Oppositionsparteien verurteilen eine Anerkennung des Genozids.

Kurz vor dem 100. Jahrestag des Beginns der Massaker an den Armeniern im zerfallenden Osmanischen Reich eskaliert der Streit über die Frage, ob es sich bei den Todesmärschen, Deportationen und Massentötungen, die ab dem 24. April 1915 stattfanden, um einen geplanten Genozid handelte. Die Türkei reagierte vergangene Woche äußerst heftig auf die Verwendung des Begriffs „Völkermord“ durch Papst Franziskus und das EU-Parlament.

Ausgangspunkt für die Kontroverse ist die historische Faktenlage, die – zumindest nach türkischer Ansicht – unterschiedliche Schlussfolgerungen zulässt. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges lebten rund zwei Millionen christliche Armenier im Osmanischen Reich, nach dem Krieg waren es weniger als eine halbe Million. Im Jahr 1915 ordnete die osmanische Regierung die Umsiedlung der Armenier an; die ersten Verhaftungen fanden am 24. April statt. Deportationen, Massaker und Todesmärsche kosteten Hunderttausende das Leben. Tausende Überlebende wurden von muslimischen Familien aufgenommen oder traten zum Islam über. Erst seit der Enttabuisierung des Themas vor einigen Jahren entdecken viele Türken, dass sie armenischer Abstammung sind.

Die Türkei räumt ein, dass die Armenier großes Leid erlebten. Laut Ankara leitete die osmanische Reichsregierung die Zwangsumsiedlung als Antwort auf die Kollaboration armenischer Rebellen mit den im Osten vorrückenden russischen Truppen an. Der nationalistische Historiker Yusuf Halaçoğlu, einst Vorsitzender der Türkischen Gesellschaft für Geschichte, argumentiert, die Armenier hätten das Osmanische Reich „hinterrücks angegriffen“.

Obwohl die Osmanen eine geordnete Umsiedlung geplant hätten, seien durch die Kriegsbedingungen sowie „Banditentum, Hunger, Seuchen und die allgemeine Gesetzlosigkeit eines kollabierenden Staatsapparats“ viele Menschen getötet worden, äußert das türkische Außenministerium. Zudem betont die Türkei, dass auch viele muslimische Türken ums Leben kamen. Manche Politiker, darunter Präsident Recep Tayyip Erdoğan, vertreten die Ansicht, dass die Zahl der muslimischen Opfer mindestens so hoch war wie die der christlich-armenischen.

Keine Verurteilung mehr. Die meisten Fachleute zweifeln an dieser Darstellung. Sie weisen darauf hin, dass die osmanische Regierung eine dauerhafte Entfernung der Armenier aus Anatolien anstrebte, nicht eine vorübergehende Vertreibung. Historiker wie Mehmet Polatel von der Istanbuler Koç-Universität unterstreichen, dass fast gleichzeitig mit der Vertreibung der Armenier die Verteilung von deren Besitz an Muslime begann – und zwar auf Grundlage staatlicher Verordnungen. Für Polatel ist das ein Beweis dafür, dass die Armenier nicht umgesiedelt, sondern getötet werden sollten.

Zwar kann seit einigen Jahren über das Thema diskutiert werden, ohne dass die Anhänger der Völkermordsthese eine Verurteilung wegen „Beleidigung des Türkentums“ befürchten müssen. Auch gibt es Bücher und wissenschaftliche Konferenzen zur Armenier-Frage. Doch die Forderung nach Anerkennung des Genozids trifft bei der Mehrheit der Bürger auf Ablehnung. Im Parlament von Ankara unterstützten die beiden großen Oppositionsparteien, die säkularistische CHP und die nationalistische MHP, die scharfen Reaktionen der Regierung nach den Äußerungen des Papstes und der Resolution des EU-Parlaments. Lediglich die Kurdenpartei HDP will sich der gemeinsamen Haltung der anderen Parteien nicht anschließen.

In der Debatte ist von türkischer Seite oft zu hören, dass im Ersten Weltkrieg und davor auch viele Muslime Opfer von Verbrechen wurden, ohne dass die Welt von Völkermorden spricht. Selbst aufgeklärt-liberale Intellektuelle wie der Autor Mustafa Akyol betonen, dass das Schicksal der Armenier nicht einzigartig war in den blutigen Zeiten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. In einem offenen Brief an den Papst unterstrich Akyol, er selbst stamme von Tscherkessen ab, die im 19. Jahrhundert im Kaukasus vom damaligen Russischen Reich abgeschlachtet wurden.

Türkei

Die regierende AKP hat die Verwendung des Wortes Genozid durch Papst Franziskus sowie durch das EU-Parlament verurteilt.

Zahlreiche Konferenzen werden zum Thema veranstaltet, viel wird dazu publiziert, trotzdem ist die Mehrheit der Bevölkerung gegen die Anerkennung als Genozid.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.04.2015)

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