Das letzte armenische Dorf: Ein Dorf, ein Mythos

Opa Panos steht in der Dorfstraße von Vakıflı, dem einzigen armenischen Dorf in der Türkei.
Opa Panos steht in der Dorfstraße von Vakıflı, dem einzigen armenischen Dorf in der Türkei. (c) Özkan
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In der südtürkischen Provinz Hatay befindet sich das letzte armenische Dorf im Land. Die Bewohner von Vakıflı sind die Nachfahren jener, die sich 1915 den osmanischen Truppen widersetzten.

Es ist Vorfrühling, fünf Grad, ein kühler Wind weht um die Bäume und durch die holprig gepflasterte Dorfstraße, der Himmel liegt aschfahl über dem Hang, aber der Berg leuchtet. „Leuchtet der Berg eigentlich immer?“ – „Ja“, sagt Opa Panos, „immer.“ Er trägt eine übergroße Winterjacke, in der sein alt gewordener Körper zu verschwinden scheint, und er hat die schwarze Haube tief ins Gesicht gezogen. Der Opa hat ein spitzbübisches Gemüt, er sagt: „Ich habe eine Glatze, ich friere andauernd.“ Er stützt sein Gewicht auf den Spazierstock, dann geht er langsam die Straße hinunter und lässt den samtig-grün leuchtenden Berg hinter sich, den Musa Dağ – Mosesberg –, dem der österreichische Schriftsteller Franz Werfel mit seinem Opus „Die 40 Tage des Musa Dagh“ ein Denkmal gesetzt hat.

Opa Panos ist ein Kind des Musa Dağ, seine Geschichte ist mit der des Berges schicksalhaft verwoben. Er ist einer, der die bleierne Schwermut, die den Gipfel umgibt, in seiner Gesamtheit fassen kann. Hier, im südtürkischen Dorf Vakıflı, wurde Panos 1932 geboren, nur ganz selten hat er diesen Flecken verlassen, wenn, dann für kurze Reisen in die nahe Gegend. „Es ist eigentlich schön hier!“, ruft Opa Panos in den Wind hinein, hält kurz inne, und dann zwinkert er, sagt verschmitzt: „Gehen wir ins Café.“ Er schreitet langsam voran, braucht längere Verschnaufpausen, und dabei zeigt er auf die Häuser links und rechts der Straße; sie bestehen aus hellem Stein, wie fast alle armenischen Häuser hier. 80 Zentimeter dicke Wände, die würden schön warm halten. Sein junger Enkel kommt ihm in der Dorfstraße entgegen, Panos ruft ihm zu, er soll sich wärmer anziehen, der Wind!

Vakıflı ist heute das einzige armenische Dorf in der Türkei, gelegen am südlichen Ende des Landes zwischen dem Mittelmeer und der syrischen Grenze, aber Vakıflı ist mehr als ein Dorf, es ist ein Mythos. Als 1915 die Vertreibungen der Armenier im osmanischen Reich einsetzten, verschanzten sich über 4000 Bewohner aus den sechs (bei Werfel sind es sieben) armenischen Dörfern zwischen den schützenden Bäume des Musa Dağ und widersetzten sich den Truppen, 53 Tage lang (bei Werfel sind es 40). Wenn Schüsse fielen, feuerten die Dorfbewohner zurück. Als sich ein französisches Kriegsschiff der Küste näherte, war eine Flagge mit der Aufschrift „Christen in Not“ zu sehen, die Bewohner hatten sie am Musa Dağ platziert. Fast alle konnten gerettet werden, sie wurden nach Port Said an der ägyptischen Küste gebracht.

Unter den Widerständlern befand sich auch Panos' Großvater, mit dem er sich den Vornamen teilt. Vier Jahre war er in Port Said, erzählt Panos, aber dann habe es ihm gereicht, er war fest entschlossen: „Ich gehe in mein Dorf zurück!“ Zu diesem Zeitpunkt war die Türkei von den Franzosen besetzt, und als Panos' Großvater tatsächlich zurückkam, fand er einen verwüsteten Landstrich wieder. Er nahm einen Spaten in die Hand, pflanzte Orangen- und Zitronenbäume und baute ein Haus aus grobem Stein, in dem nun sein Enkel Panos wohnt. Wie Panos' Großvater siedelten sich diejenigen, die aus Ägypten zurückkamen, in Vakıflı an. So entstand ein Dorf aus den Überresten einer ausgelöschten Geschichte und wurde mit der Zeit zu einem lebendigen Mahnmal.

In den 35 Häusern des Dorfes leben heute 135 Einwohner, die allermeisten davon sind Armenier. Die Jugend Vakıflıs zieht es nach Istanbul, sobald sich die Gelegenheit ergibt, oder ins europäische Ausland, wohin viele Nachfahren emigriert sind. Aber am zweiten Sonntag im August, wenn die Feier zur Einweihung der dörflichen Mutter-Maria-Kirche begangen wird, ist das kleine Dorf Mittelpunkt der Diaspora. Egal, wo die Kinder Vakıflıs wohnen, sie finden immer den Weg zurück, heißt es hier.

Opa Panos öffnet die leichte Holztür des Dorfcafés und grüßt die paar Gäste, die rund um den Ofen in der Mitte des Raumes Platz genommen haben. Eine holzige Wärme erfüllt den Salon mit dem braunen Fliesenboden, der Ofen knarrt vor sich hin, an der Wand hängt ein Porträt des Republikgründers, Atatürk. Die schrillen Stimmen aus der Nachrichtensendung erfüllen den Raum, man trinkt Salbeitee. Cem Çapar, der junge Vorsitzende der armenischen Gemeinde Vakıflı, hat am Rand des Raumes Platz genommen und lässt Zucker in seinen Tee rieseln. Er könne nur darüber rätseln, sagt er, warum sich die Rückkehrer und Überlebenden ausgerechnet in diesem Dorf niedergelassen haben.

Stolz auf das Dorf. Der Legende nach ist ein osmanischer Offizier durch die Dörfer gezogen und hat den Minderheiten, deren es hier zahlreiche gab, mitgeteilt: „Wir sind jetzt Republik, ihr dürft bleiben.“ So haben sich Armenier zu den Turkmenen gesellt und sich am Fuße des Musa Dağ (erneut) eingerichtet. „Das haben uns jedenfalls unsere Großväter erzählt“, sagt Çapar, und Opa Panos nickt ihm zu. Dafür, dass Vakıflı ein doch überschaubares Dorf ist, hat Çapar einiges zu tun. Er sieht nach der Kirche, er kümmert sich um die Einwohner, er hat die Touristen im Überblick. 65.0000 Reisende kommen jährlich nach Vakıflı, die allermeisten davon aus der Türkei. Ihnen verkaufen die Frauen aus dem Dorf selbst gemachte Marmeladen, eingelegte Melanzani, riesige Zitrusfrüchte, Granatapfelsirup. Bis nach Istanbul habe sich herumgesprochen, sagt man hier, wie gut diese Produkte schmecken.

Der Tourismus ist mittlerweile die Haupteinnahmequelle des Dorfes. Früher hat Opa Panos seine Orangen und Zitronen unten in der Stadt Samandağ verkaufen lassen, heute bringt die Globalisierung ebendiese Früchte aus aller Welt hierher. In seiner kleinen Plantage, sichtbar vom Fenster des Caféhauses, biegen sich die Äste voller überreifer Früchte Richtung Erdboden. Manchmal pflücken sich die Touristen ein Andenken vom Baum.

In Vakıflı ist man stolz auf Vakıflı. Seit Jahrhunderten schon wohnen Armenier auf diesem Gebiet, erzählt Çapar, selbst ein eigener armenischer Dialekt wird hier gesprochen, den allerdings nur mehr die Alten beherrschen. Vakıflı schleppe aber auch eine schwere Last mit sich herum, die Last der Vergangenheit. „Dass die Türkei nicht von einem Genozid spricht, verletzt uns, beschäftigt uns tief“, sagt Çapar. Und: „Unsere Geschichte ist politischer Stoff.“ Für das Funktionieren der Republik habe die armenische Bevölkerung ihre eigene Geschichte zurückgedrängt, das sei etwas, was alle Minderheiten in der Türkei gemeinsam haben. Seit zehn Jahren aber, seit die regierende AKP des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan einen minderheitenfreundlichen Kurs eingeschlagen hat, lebe man mit einer Art Erleichterung. Der Argwohn der Behörden sei verschwunden. Ruhe sei eingekehrt.

Kein Nationalismus. Die Holztür im Café wird erneut geöffnet, ein älterer, gut gelaunter Mann mit Schnauzer betritt den Raum, „As-salam aleykum“ grüßt er, die Cafégäste grüßen auf Arabisch zurück. Çapar sagt, das sei der Bürgermeister des Nachbardorfes, ein Muslim, der Vakıflı oft besuche. Es ist eine alltägliche Szene in dieser Gegend, in der Provinz Hatay – dem antiken Antiochien –, wo sich zahlreiche Minderheiten den Boden teilen. Die Stadt Samadağ lebt es heute noch vor: Armenier, arabische Alawiten, Griechisch-Orthodoxe, Katholiken und einige Minderheiten mehr leben hier, auf der Straße wird ein Mix aus Arabisch, Armenisch und Türkisch gesprochen. „In einer Gegend wie hier haben und hatten Nationalismus und Rassismus keinen Platz“, sagt Çapar.

In Vakıflı glaubt niemand, dass die historische Aufarbeitung schnell voranschreiten wird. Çapar spreche aber für alle, wenn er sage, dass die Dinge endlich beim Namen genannt werden sollen, damit man nach vorn schauen könne, damit die Seele Frieden finde. Nach Armenien selbst blicke kaum einer aus diesem Dorf. „Unsere Heimat ist hier, nicht dort.“

Draußen vor dem Café fährt hupend der spärlich besetzte Bus vorbei, der ein paarmal täglich aus Samandağ hinauffährt. Zwei Burschen, die vor dem Café lungern, Schokoriegel essen und YouTube-Videos anschauen, winken dem Fahrer zu, dann ist es wieder still in der einzigen Straße des Dorfes. Drinnen hat jemand den Fernseher ausgeschaltet, nur der Ofen pafft noch lautstark den restlichen Rauch aus seinem Bauch.

Seit Generationen hier. Berç Kartun öffnet seine windfeste Jacke, als er das Café betritt. Der robuste Mann mit dickem Schnauzer schüttelt mit kräftigem Druck die Hände der Anwesenden, dann blickt er kurz aus dem Fenster. Kalt sei es heute, ein Tee wäre jetzt gut. Kartun ist der Bürgermeister des Dorfes, seit Generationen schon ist seine Familie hier verankert. Sein Großvater war 18 oder 19 Jahre alt, als der Widerstand begann, und auch er kam aus Port Said nach Vakıflı zurück, wurde dann Pfarrer hier, ein halbes Jahrhundert lang. Wie sich der Job als Bürgermeister des einzigen armenischen Dorfes in der Türkei denn gestalte?

Ja, das würden viele Neugierige fragen, sagt Kartun heiter, aber viel könne er da nicht erzählen, es sei ein Amt wie in jedem anderen Dorf in der Türkei auch. Im vergangenen Jahr hat Vakıflı offiziell den Status einer Gemeinde erhalten, seitdem hätten sich die finanziellen Zuwendungen gebessert. Dennoch blickt der Bürgermeister wehmütig auf bessere Zeiten zurück, als die Landwirtschaft noch ertragreich war. Nun sind es eben die Touristen, die Geld bringen, aber nicht nur das, sie bringen Interesse mit, an dem Dorf und seiner leidvollen Geschichte, so etwas könne man mit Geld nicht kaufen.

„Unsere Vergangenheit ist immer wieder Thema, aber wir wollen nicht, dass sie unser Leben beeinträchtigt.“ Einfach ist das aber nicht, das weiß Kartun. Denn sein Dorf sei ein Ort, wo der Blick auf die Vergangenheit noch gegenwärtig sei. Die Gemeinschaft lebt eng beieinander am Fuße des Mosesberges, während sie in Istanbul oder in der Diaspora versprenkelt ist.

Als einer der wenigen aus Vakıflı war Kartun vor einigen Jahren in Armenien unterwegs. Was für ein schönes Land! Aber so verkommen sei es, „die Reichen sind reich und die Armen arm, dazwischen gibt es nichts“. Armenien müsse besser auf sich achtgeben, mahnt der Bürgermeister. Denn genau das werde man in Vakıflı auch tun.

Geschichte

Als sich 1915 osmanische Truppen den armenischen Dörfern, darunter auch Vakıflı, in der Provinz Hatay näherten, beschlossen die Einwohner, Widerstand zu leisten. Über 4000 Menschen versteckten sich mit ihrem Hab und Gut im Berg Musa Dağ, um der Deportation zu entkommen.

Der Widerstand dauerte 53 Tage, ehe ein französisches Kriegsschiff die Bewohner entdeckte. Die allermeisten wurden gerettet und in das ägyptische Port Said gebracht.

Moses Der Kalousdian leitete den Widerstand. Dem Schriftsteller Franz Werfel diente er – als Gabriel Bagradian – als Hauptfigur in seinem Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“.

In Zahlen

135Einwohner hat das armenische Dorf Vakıflı im Süden der Türkei.

65tausend Touristen besuchen jährlich das Dorf, die allermeisten aus der Türkei. Der Tourismus ist die Haupteinnahmequelle von Vakıflı.

60tausend Armenier leben Schätzungen zufolge in der Türkei. Die meisten wohnen in Istanbul und anderen großen Städten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.04.2015)

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