"Die Türkei hat eine große Chance vergeben"

Die Türkei mache einen Schritt nach vorn und einen zurück, sagt der Kaukasus-Experte Thomas de Waal.
Die Türkei mache einen Schritt nach vorn und einen zurück, sagt der Kaukasus-Experte Thomas de Waal. (c) Carnegieendowment
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Der britische Kaukasus-Fachmann Thomas de Waal geht in seinem neuen Buch dem türkisch-armenischen Verhältnis seit dem Völkermord von 1915 auf den Grund.

Der armenische Völkermord ist ein Jahrhundert her. Alle Täter und vermutlich alle Überlebenden sind heute tot. Welche Relevanz hat dieses Ereignis heute noch?

Thomas de Waal: Ereignisse wie dieses bestehen im Gedenken der Menschen fort. Und im konkreten Fall wird es durch die Leugnung auf türkischer Seite fortgesetzt. Wenn es in der Türkei vor ein paar Generationen ein Eingeständnis dessen gegeben hätte, was damals geschehen ist, hätte es vielleicht einen Abschluss geben können. Darüber hinaus wurde eine Kultur zerstört. Obwohl also die Menschen tot sind, gibt es armenische Denkmäler, die Aufmerksamkeit und Wiederherstellung verdienen.

Indem wir beide das Wort Völkermord verwenden, treffen wir in den Augen mancher Vertreter beider Seiten eine politische Entscheidung. Was sagt uns das?

Es gibt heute auch viele in der Türkei, die „armenischer Genozid“ sagen. Ich finde es schade, dass es keine spezifische Bezeichnung für die Vernichtung der Armenier im Jahr 1915 gibt, vergleichbar mit den Wörtern Holocaust oder Shoa. Die Armenier haben ihren Ausdruck Medz Yeghern, also „große Katastrophe“. Ihn verwende ich als Titel für mein Buch. Ich denke nämlich, dass das Wort Genozid recht problematisch geworden ist. Es ist zu heiß, weil es immer öfter in politischen Fehden dazu verwendet wird, den Feind des höchsten Verbrechens zu beschuldigen. Zugleich ist es zu kalt, weil es ein juristischer Begriff ist, kein historischer. Wir sollten nicht vergessen, was Gerechtigkeit für die Armenier bedeuten könnte, wie man ihrer Opfer gerecht gedenkt, wie Versöhnung aussehen kann. All diesen Fragen kann man sich zuwenden, ohne das Wort Genozid zu verwenden.

Es hat den Eindruck, dass viele Armenier und Türken zu einer wesentlich offeneren Auseinandersetzung mit 1915 willens sind als ihre Regierungen.

Es gibt zwei Aspekte, die einander überschneiden. Einerseits ist da die Frage von 1915 und den westlichen Armeniern, die damals aus dem Osmanischen Reich deportiert wurden, und deren Heimat faktisch zerstört wurde. Ihre Nachkommen sind die heutige Diaspora. Für diese Menschen ist die Frage des Genozids von 1915 das entscheidende Merkmal ihrer Identität, und sie sind deshalb mit der Türkei übers Kreuz. Das Verhältnis zwischen den beiden Staaten hingegen ist viel pragmatischer. Die erste unabhängige armenische Regierung wollte nach 1991/92 die Beziehung ohne Vorbedingungen normalisieren, aber die Türkei hat diese große Chance leider vergeben. Für die Republik Armenien ist der Völkermord von 1915 nämlich nicht das größte Problem, sondern das Überleben als Staat und der Konflikt mit Aserbaidschan.

Es ist erstaunlich, dass die armenische Kultur in Anatolien zwar großteils zerstört ist, doch dort immer mehr Menschen herausfinden, dass sie armenische Wurzeln haben. Was bedeutet es für die moderne Türkei, die ja als ethnisch recht einheitliche Republik gedacht ist?

Das ist ein faszinierendes Thema. Man stellt sich nun der unangenehmen Realität, dass viele Menschen dort ein bisschen etwas von beidem haben. Das betrifft nicht nur die offen anerkannten Armenier, die in Istanbul leben und sowohl Armenier als auch Bürger der Türkei sind. Es betrifft auch diese schattenhafte Kategorie von Menschen, deren Großeltern als Kinder 1915 aus Barmherzigkeit oder mit Gewalt in muslimische Familien entführt wurden. Sie nahmen muslimische Namen an, aber behielten auf einer gewissen Ebene ihre armenische Identität. Und ihre Kinder und Enkelkinder wissen davon, auch wenn sie muslimische Namen haben und kein Armenisch sprechen. Mit dieser Frage muss man behutsam umgehen, aber sie kann der Versöhnung helfen.

Wie beurteilen Sie den Umgang der gegenwärtigen türkischen Regierung mit der Vergangenheit?

Es ist stets ein Schritt nach vorn und einer zurück. Seit ihrem Wahlsieg im Jahr 2002 hat die AKP-Regierung eine Menge Tabus gebrochen und Räume für Dinge eröffnet, von denen man früher nicht einmal hätte träumen können: akademische Konferenzen, Bücher, Denkmäler, die restauriert werden, viele Armenier können in großer Zahl die Türkei besuchen. Die Regierung ist zugleich aber weiterhin sehr ambivalent. Sie hat eine große Allergie gegen das Wort Genozid, und heuer hat es einen großen Schritt zurück gegeben. Erdoğan hat zu einem Gedenken der Schlacht von Gallipoli am 24.April aufgerufen – demselben Tag, an dem in Jerewan des Genozids gedacht wird. Er könnte wie bisher am 25.April zum Gedenken an die Schlacht auffordern.

Wieso macht er das nicht?

Ich denke, dass er kein Mann mit großem historischen Durchblick ist. Er ist ein Politiker und zählt Stimmen. Im Juni finden Wahlen statt. Er wird allerdings enttäuscht sein, dass seine Gästeliste wesentlich kürzer und nicht so prominent sein wird wie jene der Veranstaltung in Jerewan.

Kann man sagen, dass es für Erdoğan leichter ist, sich der armenischen Geschichte gegenüber zu öffnen, weil ihm das gewissermaßen die moralische Rechtschaffenheit verleiht, die moderne Republik Atatürks zu kritisieren?

Er sieht sich weniger als Führer der Türkei und mehr als muslimisch-osmanischer. Daraus folgt die Ablehnung der kemalistischen Periode und ein Blick auf eine mythologisierte Periode, in der jedermann in Harmonie mit seinem Nächsten gelebt hat.

Der armenische Genozid von 1915 fordert unser Verständnis von Massenmorden heraus. Die Jungtürken, die Sultan AbdülhamitII. 1908 entmachteten, waren europäisierte Technokraten, stark vom Sozialdarwinismus geprägt. Was sagt das über unsere Hoffnung, dass die Kräfte des Fortschritts uns zivilisieren?

Das waren keine primitiven Männer. Das waren Männer, die wussten, was sie taten. Wenn man sich die Massenmorde des 20. Jahrhunderts ansieht, in der Sowjetunion, in Kambodscha und natürlich jene der Nazis, stellt man fest, dass viele dieser Täter gedacht haben, sie würden ihre Pflicht erfüllen, ihre Staaten zu modernisieren, indem sie Minderheiten ermordet haben. Das ist erschreckend.

Das armenische Beispiel zeigt auch, wie die gut gemeinten Absichten ausländischer Staatsführer, allen voran jene der US-Präsidenten Wilson und Roosevelt, zu einer Verschärfung des Konflikts geführt haben. Wie sollen Außenstehende auf Massenmorde reagieren?

In dieser Geschichte gibt es ein Dreieck des Missbrauchs. In einer Ecke sind die Türken, in der zweiten die Armenier, in der dritten die Großmächte. Die Türken haben die Armenier missbraucht, die Großmächte zu verschiedenen Zeiten die Türken, und die Armenier appellieren an die Großmächte. Aber deren Interessen ändern sich ständig.

Welchen Nutzen haben Entschließungen der Parlamente in Rom, Washington, Berlin und anderswo, die den armenischen Genozid anprangern?

Die Entschließungen des US-Kongresses in den Achtziger- und Neunzigerjahren haben gewiss den Druck auf die Türkei erhöht. Das mag damals seinen Nutzen gehabt haben. Heute allerdings würde ich meinen, dass das nicht das Hauptthema ist. Es ist interessiert mich nicht besonders, was genau Präsident Obama am 24.April sagt oder nicht sagt. Wichtiger ist, was die Türkei sagt, und ob die türkische Gesellschaft sich ändern und dieser Sache stellen kann. Mir scheint, dass es da Reste eines politischen Denkens aus dem frühen 20.Jahrhundert gibt, als man an die Großmächte appelliert hat, ein Urteil zu treffen, statt dass die beiden betroffenen Parteien sich damit befassen.

Ist das völkerrechtliche Konzept des Genozids hilfreich, um künftige Massenmorde zu verhindern?

Es wäre verfrüht, das Wort Genozid aus der internationalen juristischen Praxis zu entfernen. Aber ich bin skeptisch. Dieses Wort ist so machtvoll und symbolisch, dass es auf unbeabsichtigte Weise beinahe als Abschreckung zur Verfolgung solcher Verbrechen wirkt. An der Universität von St.Louis gibt es eine Gruppe internationaler Juristen, die den Text einer Konvention zur Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit schreibt. Die Idee dahinter ist, einen breiteren Rahmen an Massengrausamkeiten abzudecken, ohne beweisen zu müssen, dass es ein Genozid im strengen Sinn war. Wenn Sie 100.000 Menschen töten, ist das ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, egal, welche Absicht Sie hatten. Diese Idee ist sehr verdienstvoll – doch leider scheint sie nicht viele Fortschritte zu machen.

Steckbrief

Thomas de Waal (*1966, Nottingham) ist einer der führenden Experten für die Kaukasusregion. Er erforscht, zuerst als Journalist, heute für die Carnegie-Stiftung in Washington, seit zwei Jahrzehnten die Konflikte in Berg-Karabach, Südossetien, Abchasien und Tschetschenien. 2006 verweigerte ihm Russland die Einreise aus diffusen Gründen; De Waal vermutet, dass das eine Retourkutsche für seine Berichte über den Tschetschenien-Krieg war.

Sein neues Buch „Great Catastrophe: Armenians and Turks in the Shadow of Genocide“ (Oxford University Press, 2015) ergründet den Umgang der Türken und Armenier mit dem Völkermord von 1915.

Herr de Waal, darf man Sie auch fragen...


1...ob es stimmt, dass Sie Ihrem Bruder Edmund de Waal bei den Recherchen zu seinem Bestseller „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ geholfen haben?

Ja. Ich habe noch so viel Material übrig, das sich daraus irgendwann eine Vorgeschichte zu seinem Buch machen ließe.


2...ob Sie selbst Netsuke sammeln, jene japanischen geschnitzten Miniaturen, wie sie Ihr Wiener Urgroßvater, Viktor von Ephrussi, 1899 von seinem Pariser Cousin Charles 1899 zur Hochzeit bekommen hat?

Nein, tue ich nicht.


3...was Sie bei Ihrem Studium des armenischen Genozids am meisten überrascht hat?


Die Geschichte der 1915 islamisierten Armenier und ihrer Nachfahren, die ihre wahre Identität so lang geheim halten mussten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.04.2015)

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