Italien: "Schande für die Menschlichkeit"

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Erneut ist ein Flüchtlingsboot gesunken, für die etwa 700 vermissten Menschen gibt es kaum noch Hoffnung. Diesmal verspricht Europa, auf die schlimmste Flüchtlingskatastrophe zu reagieren.

Rom. Es ist in der Nacht auf Sonntag, die Flüchtlinge in dem voll besetzten Fischerboot sind verzweifelt. Sie haben um Hilfe gerufen, ein portugiesischer Frachter nähert sich. Die Migranten wollen die Retter erreichen und klettern auf eine Seite des Bootes. Daraufhin kentert ihr Schiff. Bis zu 700 Menschen sollen ertrunken sein. „Das ist eine der größten Tragödien, die jemals im Mittelmeer geschehen sind“, sagte Carlotta Sami, Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR.

Europaweit löste das Unglück am Sonntag Entsetzen aus und befeuerte die Debatte über den Umgang mit der lebensgefährlichen Massenflucht über das Mittelmeer aus von Krieg und Krisen zerrütteten Staaten in Nordafrika sowie im Nahen und Mittleren Osten. Italiens Ministerpräsident, Matteo Renzi, forderte einen Krisengipfel der EU-Staats- und Regierungschefs noch in dieser Woche. „Wir erleben ein Massaker im Mittelmeer. Wie kann man bei so viel Leid gleichgültig bleiben“, sagte Renzi. Heute, Montag, werden sich die EU-Außenminister bei einem Krisentreffen beraten. Deutsche und österreichische Politiker forderten die EU zum Handeln auf. Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) sprach angesichts der Tragödie von einer „Schande für die Menschlichkeit.“

EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini kündigte am Sonntag eine umgehende Reaktion der Kommission an. Das neue Flüchtlingsdrama sei inakzeptabel, schrieb Mogherini. „Die EU muss ohne zu zögern Maßnahmen gegen diese Tragödie ergreifen.“ UNHCR und katholische Kreise sprachen sich für eine „europäische Operation Mare Nostrum“, eine gemeinsam verantwortete Fortsetzung der gleichnamigen Such- und Rettungskampagne, aus. Italien hatte diese nach der Tragödie von Lampedusa auf eigene Faust organisiert (damals starben etwa 330 Flüchtlinge). Mit Kosten von neun Mio. Euro pro Monat war sie dem Land aber nach einem Jahr zu teuer geworden. Der französische Staatspräsident, François Hollande, sicherte am Sonntag seine Unterstützung für mehr Überwachungsboote im Rahmen der EU-Mission Triton zu.

23.500 Boatpeople seit Jänner

Erst vergangene Woche haben Überlebende von einem gekenterten Boot von 400 vermissten Migranten berichtet, zuvor gab es schockierende Berichte über einen tödlichen Streit zwischen Christen und Muslimen an Bord eines Schiffes. „Wenn sich die Bilanz dieser erneuten Tragödie bestätigen sollte, sind in den vergangenen zehn Tagen mehr als 1000 Menschen im Mittelmeer ums Leben gekommen“, so UNHCR-Sprecherin Sami. Seit Jahresanfang wären es dann insgesamt etwa 1500 Menschen. Damit hat sich die Zahl der Ertrunkenen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum verneunfacht.

Laut offiziellen Angaben gelangten seit Jänner bereits 23.500 Boatpeople nach Italien, ein Drittel mehr als in den ersten vier Monaten des Vorjahres. Bis Jahresende rechnet die italienische Regierung mit insgesamt 200.000 Flüchtlingen.

Die Aufnahmelager in Italien sind überfüllt, die Nerven liegen blank. Rechte Parteien sprechen von „einer Tragödie der Regierung Renzi, an deren Händen Blut klebt“. Eine Lösung gebe es nur mit Aufnahmelagern in Nordafrika und einer Seeblockade gegenüber Libyen.

Österreichs Innenministerin, Johanna Mikl-Leitner, forderte, die Flüchtlinge nach einem Schlüssel „auf ausnahmslos alle EU-Staaten“ aufzuteilen. Berlusconi-Vertraute Daniela Santanché verlangt, „dass Luftwaffe und Marine alle Boote versenken, die in Libyen zum Auslaufen bereitstehen“. Damit will man den Menschenhändlern die Geschäftsgrundlage entziehen.

Kundgebung auf Wiener Minoritenplatz

Papst Franziskus drückte beim Angelus-Gebet am Sonntag seinen „tiefen Schmerz“ aus. „Die Opfer sind Männer und Frauen wie wir, sie sind unsere Brüder, die ein besseres Leben, das Glück, suchten.“

Heute findet in Wien ein stilles Gedenken an die Opfer statt. Zur Kundgebung auf dem Minoritenplatz um 18 Uhr rufen Caritas, Diakonie, Volkshilfe Österreich, SOS Mitmensch, UNHCR und Amnesty International Österreich gemeinsam auf. „Das Sterben im Massengrab Mittelmeer muss ein Ende haben“, so Caritas-Präsident Michael Landau.

AUF EINEN BLICK

Weitere Infos:www.diepresse.com/fluechtlingeDie schlimmsten Tragödien im Mittelmeer der vergangenen Monate:

April 2015: Vor Libyen kentert ein voll besetztes Flüchtlingsboot. Die Einsatzkräfte befürchten bis zu 700 Tote. Wenige Tage zuvor sind 400 Menschen nach einem Unglück vermisst worden.

Februar 2015: Vor Lampedusa sterben möglicherweise mehr als 330 Flüchtlinge.

September 2014: Nur zehn Menschen werden gerettet, als ein Boot mit angeblich mehr als 500 Migranten untergeht. Überlebende berichten, dass Menschenschmuggler das Schiff auf dem Weg nach Malta versenkt hätten.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.04.2015)

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