Sondertreffen: EU sucht Weg aus Todesspirale

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Die EU sucht nach Auswegen, hält einen Sondergipfel ab, doch die humanitäre Katastrophe im Mittelmeer verschärft sich täglich.

Wien/Luxemburg/Brüssel. Betretene Gesichter und der wiederkehrende Ruf, endlich Maßnahmen gegen das wachsende Flüchtlingselend im Mittelmeer zu setzen: Das offizielle Europa steht unter Schock, nachdem am Wochenende bis zu 950 Migranten auf hoher See den Tod gefunden haben. Schon am gestrigen Montag überschattete die nächste Hiobsbotschaft das Unglück. Drei Boote mit insgesamt mehreren hundert Menschen an Bord gerieten in Seenot; zahlreiche Insassen werden vermisst. Und die Flüchtlingswelle nimmt weiter zu. Nach Schätzungen der italienischen Regierung warten allein in Libyen bis zu einer Million Flüchtlinge auf die gefährliche Überfahrt nach Europa. Einigkeit besteht in der EU lediglich darüber, dass das Sterben im Mittelmeer ein Ende haben muss. Doch nach vergangenen Katastrophen zeigte sich: Die Bereitschaft unter den Mitgliedstaaten, in der Flüchtlingsfrage gemeinsame Aktionen zu setzen, ist enden wollend.

Am Montag berieten die EU-Außen- und Innenminister – unter ihnen Sebastian Kurz und Johanna Mikl-Leitner – über die Konsequenzen der jüngsten Tragödien. Ratspräsident Donald Tusk berief zudem für Donnerstag dieser Woche einen Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs ein. Die EU-Kommission will mit einem Maßnahmenpaket gegen die Füchtlingswelle vorgehen. Laut einem internen Papier, das der „Presse“ vorliegt, sollen vor allem die finanziellen Ressourcen und der Kampf gegen Schlepper deutlich ausgeweitet werden.

1 Gemeinsame Seerettungsaktion der Europäischen Union im Mittelmeer

Um die Flüchtlingstragödien so rasch wie möglich einzudämmen, fordern Hilfsorganisationen eine gemeinsame europäische Seerettungsoperation im Mittelmeer – zentral koordiniert und von allen Mitgliedstaaten mitfinanziert. Seitdem die von der italienischen Marine durchgeführte Rettungsaktion Mare Nostrum im Oktober eingestellt wurde, gibt es etwas Vergleichbares nicht mehr: Die Nachfolgemission Triton steht unter dem Kommando der europäischen Grenzschutzagentur Frontex – und ist nicht dazu befugt, Rettungsaktionen zu koordinieren. Die Gegner einer gemeinsamen Seerettungsoperation – darunter vor allem nordeuropäische Mitgliedsländer – argumentieren, dass dann nur noch mehr Flüchtlinge zur gefährlichen Überfahrt verleitet würden. Der kleinste gemeinsame Nenner liegt nun offenbar in einer Verdopplung der Mittel für die Frontex-Operationen Triton und Poseidon.

2 Vorauswahl von Flüchtlingen in Asylzentren und legale Migration

Nach jedem Flüchtlingsunglück im Mittelmeer wird auch der Ruf nach Möglichkeiten zur legalen Migration wieder lauter. Innenministerin Mikl-Leitner und Außenminister Kurz plädieren dafür, UNHCR-Anlaufstellen für Flüchtlinge in Nordafrika einzurichten – was den Schleppern langfristig die Geschäftsgrundlage entziehen soll. Dort, so die Idee, könne auch eine Vorauswahl der tatsächlich Asylberechtigten stattfinden.

Doch so einfach ist das nicht, wie Bernhard Perchinig, EU-Migrationsexperte vom International Centre for Migration Policy Development (ICMPD), im Gespräch mit der „Presse“ darlegt: „Auf diese Weise werden regionale Migrationspole in Nordafrika geschaffen“, meint er – und jene Menschen, die einen ablehnenden Bescheid erhalten, würden ihr Glück erst recht wieder auf illegalem Weg versuchen. Zudem sei die Koordination solcher Anlaufstellen in politisch instabilen Regionen äußerst schwierig. Das UNHCR teilt diese Bedenken. Flüchtlingslager in Nordafrika seien „für den Moment unrealistisch“, meinte Sprecherin Ruth Schöffl in einem APA-Interview. Vor allem in Libyen, wo ja die meisten Flüchtlinge ihre Reise nach Europa antreten, sei es „völlig illusorisch, ein menschenwürdiges Asylprogramm aufzubauen“ (siehe Seite 2). Perchinig hält es deshalb für weit sinnvoller, Migranten schon in den Botschaften ihres Heimatlandes die Möglichkeit zu geben, einen Asylantrag zu stellen.

3 „Gerechter“ Verteilungsschlüssel der Asylsuchenden auf die Mitgliedstaaten

Im Lichte tausender Toter nimmt sich der Streit um eine gerechtere Aufteilung der Migranten zynisch an – und wird doch seit Jahren emotional geführt. Derzeit gilt in der EU die Dublin-II-Verordnung, wonach ein Flüchtling in jenem Land um Asyl ansuchen muss, in dem er zuerst europäischen Boden betreten hat. Während Mittelmeerländer wie Italien beklagen, die Hauptlast der Flüchtlingswelle zu tragen, ist für nordeuropäische EU-Mitglieder klar, dass eine Quotenregelung sie sogar entlasten würde: Wien und Berlin werfen der italienischen Regierung vor, die Flüchtlinge nach Norden weiterziehen zu lassen (siehe Seite 2). Die Mitgliedstaaten sind aber verpflichtet, Fingerabdrücke aller Ankömmlinge zu nehmen, um das erste Einreiseland nachvollziehen zu können. Mögliche Indikatoren für einen Verteilungsschlüssel könnten die Bevölkerungsgröße und die Zahl der Asylanträge der vergangenen Jahre sein.

Weitere Infos: www.diepresse.com/flüchtlinge

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.04.2015)

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