Armenien: Wie Wien den Genozid verurteilt und übergeht

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Österreichische Arbeitsteilung: Die sechs Klubobleute des Nationalrats anerkennen und verdammen den Völkermord an den Armeniern. Das Außenamt hält sich indes sich aus Rücksicht auf die Beziehungen zur Türkei weiterhin zurück.

Wien. Andreas Schieder (SP) und Reinhold Lopatka (VP) unterschrieben ebenso wie Heinz-Christian Strache (FP), Eva Glawischnig (Grüne), Matthias Strolz (Neos) und Waltraud Dietrich (Team Stronach). Einträchtig wie sonst nur selten haben die Klubobleute aller sechs Nationalratsparteien in einer gemeinsamen Erklärung den Genozid an den Armeniern vor 100 Jahren beim Namen genannt. Sie folgen damit dem Beispiel von rund 20 anderen Parlamenten weltweit.

Am Mittwoch wollen die Abgeordneten ihre Sitzung mit einer Schweigeminute beginnen, um der Getöteten zu gedenken. Nationalratspräsidentin Doris Bures wird alle darum ersuchen. Bis zu 1,5 Millionen Armenier fielen im Osmanischen Reich laut Schätzungen von Historikern Vertreibungen und Massakern zum Opfer.

„Aufgrund der historischen Verantwortung – die österreichisch-ungarische Monarchie war im Ersten Weltkrieg mit dem Osmanischen Reich verbündet – ist es unsere Pflicht, die schrecklichen Geschehnisse als Genozid anzuerkennen und zu verurteilen“, heißt es in der Erklärung. Das ist noch immer kein Beschluss des Parlaments, aber ein deutliches Statement. Der Nationalrat geht jedenfalls weiter als die Bundesregierung, die sich nach wie vor scheut, von einem Genozid zu sprechen, und dabei ein spitzfindiges völkerrechtliches Argument ins Treffen führt: Es sei erst 1948 definiert worden, was unter Völkermord straf- und völkerrechtlich zu verstehen sei, der Begriff deshalb nicht rückwirkend anwendbar, erläutert Martin Weiss, der Sprecher des Außenamts, gegenüber der „Presse“.

„Eigenständiges Parlament“

VP-Klubobmann Reinhold Lopatka blendet die völkerrechtliche Beurteilung bewusst aus. „In einer solchen Frage will ich mich auf dieses formalrechtliche Argument nicht einlassen“, sagt der Ex-Staatssekretär des Außenamts zur „Presse“ und weist auf die eigenständige Rolle des Parlaments hin.

Dabei zeichnet sich eine Arbeitsteilung ab: Der Nationalrat übernimmt den moralischen Part, die Regierung den diplomatischen. Das Außenamt will die angespannten Beziehungen zur Türkei nicht weiter belasten. Die sechs Klubchefs fordern die Türkei indes auf, Licht ins Dunkel der Vergangenheit zur bringen. Die Erklärung sei nicht als „Provokation der Türkei gedacht“, sondern als Ansporn zur Aussöhnung zwischen der Türkei und Armenien, versichert Lopatka.

Den Anstoß zur Deklaration der Klubobleute gab der Papst, der das armenische Drama neulich als „ersten Genozid des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet hatte. Danach erst, am Donnerstag, setzte sich die Präsidiale im Nationalrat zusammen. FP-Chef Strache brachte dabei die Idee ein, eine Schweigeminute für die Armenier abzuhalten.

Die Türkei weigert sich bis heute vehement, den Völkermord an den Armeniern anzuerkennen. Die Regierung in Ankara warf dem Papst nach seiner Stellungnahme wütend vor, Rassismus und Islamophobie zu schüren. Zu Beginn der Woche schlug der türkische Regierungschef etwas versöhnlichere Töne an. „Wir teilen den Schmerz der Kinder und Enkel der Armenier, die ihr Leben bei Deportationen 1915 verloren“, erklärte Ahmet Davutoğlu und wies auf eine Gedenkzeremonie am Freitag im Armenischen Patriarchat in Istanbul hin.

Mit einer offiziellen türkischen Reaktion auf die Erklärung des österreichischen Nationalrats wird am heutigen Mittwoch gerechnet.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.04.2015)

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