Video zeugt von "beunruhigender Kampfkraft" des IS

MG-Schütze des IS bei Baiji
MG-Schütze des IS bei BaijiIS
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Westliche Militärs haben einen Film analysiert, der eine Einheit des Terrorkalifats im Kampf um eine Raffinerie im Irak zeigt. Man erkenne sehr gute militärische Fähigkeiten und lehrbuchmäßiges Vorgehen, heißt es.

Ein in islamistischen Kreisen im Internet aufgetauchtes Propagandavideo der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) ist für westliche Militärexperten und Offiziere besorgniserregend: Diesmal aber nicht, weil es grausame Taten zeigt, sondern weil man erkennt, dass diese IS-Leute offenkundig ausgezeichnete militärische Fähigkeiten an den Tag legen und taktisch lehrbuchmäßig vorgehen - und das ungeachtet (oder vielleicht gerade wegen) des seit August 2014 anhaltenden internationalen Luftkriegs gegen sie sowie der abnutzenden Kämpfe etwa gegen irakische und kurdische Truppen.

Insgesamt seien die im Video gezeigten IS-Männer in Auftritt und Gefechtsverhalten motivierter, klüger, besser trainiert und geführt als das Gros der Streitkräfte der irakischen Regierungsarmee und sie unterstützende Milizen, folgert etwa ein früherer Offizier der britischen Kommandotruppe SAS (Special Air Service), der irakische Kurden berät und ungenannt bleiben will.

Das rund 15 Minuten lange, professionell gestaltete Video entstand ganz klar bei einer Offensive des IS Mitte April auf die von irakischen Truppen verteidigte große Ölraffinerie bei Baiji, einer Stadt am Tigris nördlich von Tikrit bzw. rund 200 km nordwestlich von Bagdad.

Monatelanges Hin und Her

Die Gefechte um Baiji halten seit Juni 2014 an. Zuerst eroberte der IS die Stadt im Handstreich, einige hundert Iraker, die später Verstärkung erhielten, konnten aber die mehrere Quadratkilometer große Raffinerie halten. Im November eroberten Regierungstruppen mit alliierter Luftunterstützung (auch die Royal Air Force mischte massiv mit) die Stadt zurück, nur um sie einen Monat später wieder teilweise aufgeben zu müssen. Seither sind Iraker und IS im Raum Baiji, die Region ist wüstenhaft und trostlos flach, am Boden miteinander verzahnt, mehrere Offensiven der Islamisten wurden abgewehrt.

Die Raffinerie konnten die Iraker die ganze Zeit über im Großen und Ganzen halten, zuletzt wehrten sie zwischen 11. und 17. April den erwähnten jüngsten - und eben mitgefilmten - Ansturm des "Islamischen Staates" auf das Industrieareal ab. Die Miliz habe sich seitdem von dem Gelände zurückgezogen, heißt es.

Die belagerte Raffinerie
Die belagerte RaffinerieIS

Das Video namens "Defiant Attack on the Apostates at the Refinery" (etwa: Kühner Angriff auf die Glaubensabweichler in der Raffinerie) folgt dem bekannten Propandaauftritt des IS: Mit martialischen Szenen von schießenden Haubitzen, von Luftabwehrkanonen im Kampf gegen Bodenziele, von Raketenwerfern, zerstörten feindlichen Panzern und Radfahrzeugen, von eroberten Arsenalen und von US-Drohnen, auf die Fla-Kanonen (erfolglos) feuern, von gefallenen Irakern und posierenden IS-Männern - vieles davon unterlegt mit heroischen Korangesängen.

Letzte Minuten eines Selbstmordattentäters

Man begleitet auch einen Selbstmordattentäter in seinen letzten Lebensminuten: Der gut aussehende Mann Anfang 20 besteigt unter viel Hin und Her scheinbar entspannt und mit leuchtenden Augen einen eroberten, mit Sprengstoff vollgepackten "Humvee"-Geländewagen. Er fährt von einer Häuseransammlung aus über flaches Wüstengelände, über das mächtige Stromleitungen führen, und verschwindet in der Tiefe des Raums. Kurz darauf steigt etwa ein Kilometer entfernt eine enorme Explosionswolke in den graublauen Himmel über der beigen Landschaft; was genau der junge Mann angegriffen hat, sieht man nicht.

"Die Presse" verzichtet aus grundsätzlichen Erwägungen auf einen Link zu diesem Popagandafilm und beschränkt sich auf Screenshots. Im übrigen geht es nicht um eine Nacherzählung des Inhalts sondern um mehrere Tatsachen darin, die Militärexperten stutzig machen:

Drohnentechnik: Gleich zu Beginn sieht man  Filmsequenzen der Baiji-Raffinerie aus der Luft, die ziemlich klar von einer Drohne stammen (man hört auch Fluggeräusche). Sie sind recht hochauflösend, kurz darauf wird eine Art Kontrollraum gezeigt, in dem bärtige Männer auf Flachbildmonitoren Aufnahmen von Überwachungskameras betrachten; ob es sich um den Film der Drohne, ja gar einen Livestream handelt, erschließt sich allerdings nicht. Der IS hat jedenfalls offenbar die Möglichkeit, ferngesteuerte Fluggeräte (diese werden nicht gezeigt) zu kaufen oder selbst zu bauen und mit Kameras auszustatten. Man kann davon ausgehen, dass es sich nicht um millionenteure, mithin bewaffnete Geräte wie die "Reaper"-Drohnen der USA, sondern um relativ billige Maschinen handelt, jedenfalls verbessern sie die Aufklärungs- und Frühwarnkapazitäten der Terroristen.

Drohnen-Luftaufnahmen der Raffinerie
Drohnen-Luftaufnahmen der RaffinerieIS

Tarnkunst: Viele der gezeigten Kanonen und Flugabwehrwaffen, gerade auch solche, die auf Lkw montiert sind, sind gut getarnt (oft nur mit Decken, zwischen Hausdächern, unter Bäumen) bzw. nach dem Einsatz rasch wieder tarnbar, um sie der Luftaufklärung zu entziehen. Ein besonders gutes Beispiel ist ein "Katjuscha"-artiger Mehrfachraketenwerfer Kaliber 122 Millimeter: Es sind zwar nur drei Röhren (in konventionellen militärischen Werfern sind es weit mehr, beispielsweise 40 im altgedienten russischen BM-21), aber die drei sind auf den Boden des Ladecontainers eines gewöhnlichen Muldenkipplasters koreanischer Bauart montiert, und zwar so, dass sie nach dem Zurückkippen in die Horizontale schnell unter einer Lage Gerümpel, Müll, Kartons und ähnlichem verschwinden; das Gefährt ist dann von einem normalen Müllkipper nicht zu unterscheiden.

Ein von Journalisten befragter Kommandant der Hisbollah im Libanon meint dazu, dass seine Leute so etwas schon früher erfunden hätten: "Wir haben 30 Jahre lang gelernt, wie wir unsere Waffen vor der israelischen Luftwaffe verstecken, und jetzt haben das auch die (der IS, Anm.) gelernt, um sich vor den Amerikanern zu verstecken."

Getarntes Geschütz im Moment des Abfeuerns, vermutlich eine russische oder chinesische Feldkanone 130 mm
Getarntes Geschütz im Moment des Abfeuerns, vermutlich eine russische oder chinesische Feldkanone 130 mm "M-36" bzw. "Typ 59"IS
Dreifachraketenwerfer, getarnt in einem Muldenkipper
Dreifachraketenwerfer, getarnt in einem MuldenkipperIS

Entwickelte Infanterietaktik: Bei ihrem Marsch durch das Raffineriegelände bewegen sich die IS-Mannen nicht wie unkontrollierte Haufen, sondern überlegt und kontrolliert, wie "nach dem Infanterielehrbuch", heißt es. Sie gehen in lockerer Schützenkette vorwärts, sichern beidseitig und einander und halten (jedenfalls meistens, nicht immer!) genug Abstand zwischeneinander - so kann man die Verluste bei Beschuss verringern, die höher wären, träfe etwa eine Bombe in eine dichte Ansammlung.

Vorgehen durch eine Engstelle
Vorgehen durch eine EngstelleIS
Irgendwo in der Raffinerie
Irgendwo in der RaffinerieIS

Schießdisziplin: Wer ein Sturmgewehr trägt, der neigt grundsätzlich dazu, Dauerfeuer zu schießen: Das scheint besser zu wirken und tut es sicherlich auch, wenn viele kleine Ziele nah beisammen stehen oder das Ziel flächig ist, etwa ein Fahrzeug. Meist aber ist das ein wohl auch psychologisch und durch Actionfilme begründeter Irrtum, denn bei Dauerfeuer wandert die Waffe schnell vom Ziel weg: Der Rückstoß treibt sie nach oben, sie weiter aufs Ziel zu halten ist schwer und erfordert viel Übung und Kraft. Dazu kommt hoher Munitionsverbrauch.

Gerade arabische Soldaten (das bezeugen etwa westliche und russische Militärberater) sowie weniger gut ausgebildete Terroristen neigen zu Dauerfeuer (bei Kämpfern, die gleichzeitig religiöse Formeln schreien, sagt man sarkastisch "pray and spray" dazu). Die gezeigten IS-Kämpfer hingegen geben meist kurze, gezielte Feuerstöße und Einzelschüsse ab, Dauerfeuer fand statt, wenn Soldaten ihre vorrückenden Kollegen decken.

"Das ist bemerkenswerte Feuerdisziplin" befindet ein ehemaliger Soldat der US-Spezialtruppe "Green Berets", der viel Erfahrung in Nahost hat und anonym bleiben will. Überhaupt: "Sie zeigen ruhige taktische Zuversicht: korrektes Bewegen, Abstände, Feuerdisziplin. Ihr Auftritt entspricht weniger dem einer Guerillatruppe als einer regulären Militäreinheit." Sein Kollege vom SAS ergänzt: "Sogar die besser trainierten Soldaten der Iraker jagen aufs Geratewohl ungezielt gleich ein oder zwei Magazine raus, kaum, dass sie Feindkontakt haben. Damit stiften sie Verwirrung, treffen nichts und verschwenden wertvolle Munition, mit der ihre Führung sie nicht mit der gleichen Effizienz versorgt wie der IS offensichtlich seine Leute."

Schütze mit Kalaschnikow
Schütze mit KalaschnikowIS

Persönliche Ausstattung: Die Bekleidung wirkt relativ ordentlich und gepflegt, von extremem "Räuberzivil" wie bei anderen Guerillas kann man eher nicht sprechen, wenngleich Turnschuhe vorherrschen, aber das heißt unter den dortigen Umständen wenig. Den Beobachtern fielen gut gefüllte Rucksäcke mit zusätzlicher Ausrüstung und genügend Wasserflaschen auf, was auf eine funktionierende Logistikkette hindeute.

Marschkolonne, Wasservorrat ist dabei
Marschkolonne, Wasservorrat ist dabeiIS

Auffälligkeiten auf irakischer Seite: Eroberte Depots der Armee und Fahrzeuge waren bis oben hin mit Munition und Lebensmitteln gefüllt. Das widerspreche, so die Beobachter, den häufigen Beschwerden der Truppe, sie werde schlecht versorgt und müsse sich aus Vorräten der Zivilisten bedienen.

Erwartungsgemäß wurde das eine oder andere zerstörte Panzerfahrzeug (etwa ein russischer BTR-80-Schützenpanzer, Humvees) stolz gezeigt, aber deren Verletzlichkeit ist bekannt. Allerdings finden sich neben einem möglicherweise von der Crew aufgegebenen russischen Kampfpanzer T-72 auch zwei amerikanische M-1 "Abrams", einer davon brannte, der andere schien äußerlich intakt und bloß aufgegeben. "Die Presse" hat die hohen irakischen Panzerverluste, auch bei den Abrams, die sonst als kaum zu knacken gelten, schon in einem früheren Artikel thematisiert.

Zerstörter irakischer Radschützenpanzer
Zerstörter irakischer RadschützenpanzerIS
Aufgegebener Abrams-Panzer
Aufgegebener Abrams-PanzerIS
Siegesposen auf dem Abrams
Siegesposen auf dem AbramsIS

Aus den erwähnten Beobachtungen eben wurde der Schluss gezogen, wonach die IS-Truppen - jedenfalls jene in dem Video gezeigten - insgesamt höheren Kampfwert als ihre irakischen Gegner hätten. Das unterstreiche auch die Notwendigkeit weiterer alliierter Unterstützung für den Irak und andere Gegner des Kalifats, zumindest aus der Luft: "Ohne die hätte der IS schon längst Bagdad unmittelbar belagert", meint der frühere SAS-Mann.

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Ein Bild von ungeheurer Traurigkeit, wenn man genau hinschaut
Ein Bild von ungeheurer Traurigkeit, wenn man genau hinschautIS

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