Flüchtlingsdrama: "Wir tun es für die Zukunft unserer Kinder"

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Immer mehr Flüchtlinge wählen Griechenland als Einfallstor nach Europa. "Die Presse am Sonntag" folgt ihrer Route von den Inseln der Ostägäis nach Mitteleuropa.

Vergangenen Donnerstag, am Tag des EU-Gipfels zur Bekämpfung des Flüchtlingsproblems, trafen in Griechenland 237 Bootsflüchtlinge ein. Etwa 100 davon gingen in Chios an Land, ein paar Dutzend auf dem Inselchen Oinousses, 95 durchquerten unbemerkt die gesamte Ostägäis und wurden erst in den Gewässern der dem Festland vorgelagerten Insel Euböa aufgebracht. Insgesamt kamen an den ersten vier Tagen dieser Woche 1600 Menschen über die Ägäis. Drei Menschen ertranken – darunter ein fünfjähriges Kind.

Beim EU-Gipfel wurde vor allem den Schleppern der Kampf angesagt. Auf der Ostägäis-Route über die Türkei aber gibt es oft gar keine Schlepper mehr. Der Syrer Mohammed (Name von der Reaktion geändert) erklärt, warum: „Sie setzen einen ins Schlauchboot und sagen, dass man umsonst fährt, wenn man selbst das Steuer übernimmt.“

Wer möchte, kann selbst fahren. Die griechischen Hafenbehörden bestätigten das. Die Inseln sind der Türkei so nah, dass auch ein Laie das andere Ufer erreichen kann. Man sagt ihm, welchen Leuchtturm er beim nächtlichen Abenteuer ansteuern soll, dann beginnt das Beten an Bord.

Der Tarif für die kurze Überfahrt vom türkischen Festland liegt bei etwa 1000 Euro. Dieser Weg ist billiger und viel sicherer als die Afrika-Route. Dem Vernehmen nach ist mittlerweile freilich auch eine lange und ungleich teure Direktroute von der Türkei nach Italien erschlossen worden, auf der meist halbwegs betuchte Syrer reisen.

Allein in den ersten drei Monaten 2015 wurden in Griechenland 10.445 Illegale aufgegriffen. Zwei Drittel davon waren Kriegsflüchtlinge – das ist der große Unterschied zu den 1990er-Jahren, als hunderttausende Albaner in Griechenland einfielen. Syrer, Afghanen und Somalier hingegen sind Kriegsflüchtlinge mit Anspruch auf Asyl.

Mohammed, ein 34-jähriger Sunnit, ist bereits vor dem syrischen Bürgerkrieg gekommen. Er lernte Griechisch, vernetzte sich am Arbeitsmarkt und arbeitete als Maler. Doch in Zeiten der Wirtschaftskrise reichte es gerade zum Überleben. Viele seiner Bekannten und Freunde gingen, sie sahen keine Zukunft im Land. Als auch er sich durchrang, Griechenland zu verlassen, war es zu spät. In Syrien brach die Revolution aus, der Rückweg war versperrt.

„Dieselben Leute, die mich baten, zurückzukommen, flehten mich nun an, im Ausland zu bleiben.“ Im Fall der Rückkehr würde er sofort in den Gefängnissen des Regimes verschwinden und wohl nie wieder auftauchen. Mohammed beschloss 2011, Asylantrag in Griechenland zu stellen. Er reihte sich in die endlosen Schlangen vor der alten Asylbehörde ein, hatte Glück, dass es ihm gelang einen Antrag zu stellen. Nun hat er seine „rosa Karte“, und auch einen Pass beantragt.

Weiterschaufeln nach Mitteleuropa.Papiere in nur einem Tag. Griechenland war nicht nur für seine schlechte Infrastruktur zur Aufnahme von Flüchtlingen, sondern auch für seine ineffiziente Asylbehörde bekannt. Nur 0,5 Prozent der Antragsteller bekamen Asyl. 2013 wurde die Behörde reformiert, jetzt erhält nahezu jeder Zweite Asyl. Das Tempo hat sich gesteigert, die Prozedur ist einfacher, heute können syrische Flüchtlinge im Schnellverfahren innerhalb eines Tages Asyl bekommen, wenn sie ihre Papiere mit sich führen. Sie erhalten Reisedokumente und können drei Monate pro Halbjahr im Schengen-Raum reisen, dann müssen sie nach Griechenland zurück. Das ist „zu 100 Prozent konform mit der europäischen Gesetzgebung“, sagt die Chefin der Behörde.

Viele gehen allerdings davon aus, dass sie aus anderen EU-Ländern mittlerweile nicht mehr nach Griechenland zurückgeschoben werden. So auch Mohammed: „Ich will eine Familie gründen. Hier finde ich nicht genug Arbeit, um Kinder zu ernähren. Ich werde nach Deutschland gehen. Ich bin mir sicher, dass sie mich nicht zurückschieben, wenn ich erst einmal dort bin. Alle Syrer, die jetzt hierher kommen, wollen wieder weg. Asylantrag stellen hier nur die, die gar kein Geld haben.“

Tatsächlich nennen die Neuankömmlinge meist Deutschland oder Schweden als Ziel. Viele sind gut ausgebildet, ein großer Prozentsatz gehört der Mittelschicht an. Auf die Frage, warum sie das Abenteuer auf sich nehmen, zeigen sie auf ihre Kinder: „Wir tun es für die Zukunft unserer Kinder.“

Alle in der Ägäis Angeschwemmten landen in Athen, im Viertel um den zentralen Omonoia-Platz. Hier warten Verwandte, Freunde oder auch die Schlepper auf die Neuen. Wer genug Geld hat, kauft sich falsche Papiere, um auf dem Luft- oder Seeweg weiterzureisen, andere nehmen die lange und gefährliche Route über den Balkan auf sich, meist zu Fuß, um in Mitteleuropa Asyl zu begehren.

Routentipp Serbien und Österreich.Etwa in Ungarn? „Nein. Wenn sie dich in Ungarn erwischen und Fingerabdrücke abnehmen, kannst du nicht weiter. Deshalb haben sie jetzt begonnen, über Serbien nach Österreich zu gehen. Wenn sie dich in Österreich erwischen, macht das nichts. Dort wirst du versorgt. Sie geben dir eine Wohnung und Geld. Du bist nicht auf der Straße“, sagt Mohammed. Aber der Weg ist gefährlich: Kürzlich wurden bei Veles in Mazedonien 14 Illegale von einem Zug überfahren. Sie waren den Schienen Richtung Norden gefolgt.

Die neue Linksregierung unter Ministerpräsident Alexis Tsipras träumt von „offenen“ Strukturen bei der Betreuung von Asylwerbern. Doch in der Praxis war sie bisher nicht in der Lage, genügend Betten zur Verfügung zu stellen. Sie müssen viel zu oft mit der Straße als Schlafplatz vorliebnehmen. Es gibt nicht genügend Betten, nur zu oft wollen die Gemeinden keine Flüchtlinge haben: So hat sich etwa der Ort Pentelis gegen die Aufnahme von minderjährigen unbegleiteten Immigranten gewehrt, die aus dem Auffanglager Amygdaleza nahe Athen entlassen wurden. Dort waren sie, gegen alle europäischen Rechtsvorschriften, bis zu 18 Monate festgehalten worden.

Rassistisch motivierte Attacken auf Ausländer sind seit Herbst 2013, als die Führungsriege der neonazistischen Partei Goldene Morgenröte verhaftet wurde, unterdessen zurückgegangen. Die griechische Bevölkerung zeigt meist Mitgefühl mit Kriegsflüchtlingen, das vermutlich durch das Wissen verstärkt wird, dass die meisten das Land sowieso verlassen wollen, wie es die Immigrationsministerin wenig elegant auf den Punkt brachte: „Wir zählen die Neuankömmlinge an der Grenze. Dann verschwinden sie.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.04.2015)

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