Mailand: Im glitzernden Flüchtlingsdurchhaus Norditaliens

(c) REUTERS (YARA NARDI)
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Die norditalienische Metropole Mailand, wo in Kürze die Weltausstellung öffnet, hat sich zu einer gewaltigen Drehscheibe für den Flüchtlingsansturm nach Europa entwickelt. Eine Reportage.

Die Morgensonne knallt auf das Betonpflaster, auf die Mäuerchen, die Rabatten. Nach Urin riecht es und nach Blüten. Der Großstadtverkehr lärmt, Baumaschinen rattern.

Abrahm sitzt da und füttert Tauben. Oder besser: Er spielt mit ihnen. Er sucht eine Beschäftigung. Zu tun hat er ja nichts. Und zu füttern nur Krümel. Was Abrahm hat, füllt nicht einmal die gelbe Einkaufstasche neben ihm. „Schau“, sagt er. Da sind zwei Packungen Kekse, eine davon schon halb leer. Mehr ist da nicht.

Abrahm erzählt in mühevollem Englisch von Zuhause. Von einem Äthiopien, aus dem er weggelaufen ist, weil er politisch irgendwie nicht ins Konzept passe. „Sie sperren dich einfach ein“, sagt er. Nach der zweiten Haft ist er abgehauen, hat seine Mutter allein gelassen und sitzt jetzt in Mailand vor dem Hauptbahnhof. Wie viele seinesgleichen auch: ausgemergelte Gestalten, müder Blick, hohle Augen, viele erst vor drei, vier Tagen irgendwo zwischen Libyen und Sizilien aus dem Meer gezogen. „Acht Leute“, sagt Abrahm und zeigt die Zahl mit seinen Fingern nochmal, „sind auf meinem Boot gestorben.“ Dann wendet er den Blick wieder ab. „Wir haben die Leichen ins Wasser geworfen.“ Und jetzt? Abrahm zuckt mit den Schultern. „Ich will weg von hier. Germany, Sweden. Germany is good. Aber ich habe kein Geld.“

Wo gehen sie alle hin? Mailand, die reiche Groß- und Finanzstadt, ist in den vergangenen Monaten immer stärker zur Drehscheibe für den Flüchtlingsverkehr geworden. Die Geretteten kommen hier an aus den sizilianischen und kalabrischen Hafenstädten im Süden. Nach drei, vier Tagen sind sie wieder weg, auf den gleichen dunklen Wegen, auf denen sie angereist sind: geschleust, gelotst, aufs Geratewohl. Ohne Papiere. Höchstens mit ein paar Telefonnummern auf der Handfläche oder im Kopf.

53.000 Flüchtlinge, schätzt die Stadtverwaltung, sind in den letzten zwölf Monaten in Mailand durchgereist. Wenn es stimmt, dass voriges Jahr 170.000 Flüchtlinge in Italien angekommen, aber nur 70.000 geblieben sind, dann sind von den 100.000 Verschwundenen mehr als die Hälfte über Mailand gelaufen, irgendwie.

„Wir müssen uns um sie kümmern“, sagt Gabriella Polifroni vom Sozialdezernat der Stadt, „aber wir können nicht mehr!“ Der Menge wegen zum einen, zum anderen wegen der glitzernden Weltausstellung, der Expo 2015, die am 1.Mai öffnet. Ein Hauptbahnhof, wo jeden Tag hunderte Flüchtlinge schlafen, kauern, sitzen, gilt da als schlechter Empfang für die erwarteten 20 Millionen Besucher. So baut die Stadt ein älteres Aufnahmelager an der Peripherie aus, mit Zelten, mit Containern, und täglich schickt sie Busse am Hauptbahnhof vorbei, um die Afrikaner einzusammeln.

Auf Rollkoffern rollt das Leben vorbei.„Aber Mailand? Was ist Mailand?“ Die vier Schwarzen auf dem nächsten Mäuerchen, zwei aus Mali, zwei aus Togo, wissen nicht einmal, wo sie sind. Sie wissen nur: Man hat sie diese Nacht aus einem Bus abgeladen und ihnen gesagt, sobald sie Geld für die Weiterreise hätten, könnten sie sich wieder melden. „Jetzt warten wir“, sagt einer. Er knetet nervös eine alte Zeitung durch. Woher soll das Geld kommen? Schulterzucken. Dann der eine: „Ich hab da einen Freund in Frankreich, vielleicht...“ Wenn man nur ein paar Münzen bekäme, ihn anzurufen... Einer der Togolesen trommelt mit den Fingern einer Hand auf der anderen herum: Auch er möchte telefonieren.

Scharen von Touristen klackern mit Rollkoffern vorbei, gestylte Geschäftsleute und Börsenhändler in modisch knappen Anzügen stürmen in proaktivem Arbeitsschnellschritt über den Bahnhofsplatz; gleich daneben hat die Regionalregierung der Lombardei ihr elegantes graumetallenes Hochhaus, einmal das höchste in Europa, mit den Fahnen aller 145 Expo-Teilnehmerstaaten verkleidet. Und unten versammeln sich Gestrandete aller Länder. Die üblichen Stadtstreicher, sie haben wenigstens etwas, das sie ihr Eigen nennen können, ganze Einkaufswagen voll. Der vielleicht 40-jährige Senegalese daneben, der sich Samba nennt, hat selbst nicht viel mehr als die zwei frisch angekommenen klapperdürren Eritreer neben ihm, um die er sich gerade zu kümmern scheint.

Zielübungen auf Passanten. Samba in der schwarzen Kunstlederjacke behauptet, dass er seit 15 Jahren in Mailand lebe, immer regulär gearbeitet und Steuern gezahlt habe. Vor zwei Jahren habe er den Job verloren: „Ohne Job kriegst du in Italien nichts mehr, keine Sozialhilfe, keine Aufenthaltsgenehmigung, keine Papiere, und wenn du keine Papiere hast, geben sie dir selbst bei der Caritas kein Essen mehr.“

Dann, sagt Samba, und zeigt auf einen kaum Dreißigjährigen, der vor dem Bahnhof – „rattattattatatt“ – mit seiner Krücke auf Passanten zielt wie mit einer Maschinenpistole: „Dann, Bruder, geht's dir so wie diesem Ahmed da. Er ist Marokkaner oder Mauretanier, irgend so etwas, und er hat sich kopfüber in den Alkohol gestürzt.“

Samba sagt, die Eritreer neben ihm brauchten Geld für Essen. Man versucht, ihnen Münzen zu geben, doch die Hand des Senegalesen drängt sich dazwischen: „Ich geb's ihnen weiter“, sagt er. Und die Eritreer blicken einem mit Augen voller Verzweiflung nach.

Flüchtlingsgeschichten hat Desio De Meo gehört, sie – sagt er – seien „so schrecklich, so unvorstellbar“. Dabei kennt sich der 70-Jährige mit menschlichen Schicksalen aus nach einem Leben voller Arbeit mit Obdachlosen, Junkies, Arbeitslosen, in Mailand und Ecuador. Seit zwei Jahren, mit dem Anschwellen der Flüchtlingsströme, leitet er die Casa Suraya, wo Flüchtlinge aus Syrien Aufnahme finden für die paar Tage, die sie in Mailand bleiben. Nonnen haben in ihrem Konvent ein altes Mädchenwohnheim freigeräumt, und De Meo hat sich auf einem der weiten Flure eine Bürokajüte eingerichtet, fliederfarben gestrichen, die Regenbogenfahne mit der Aufschrift „Pace“ an der Wand, ein aufblasbarer Globus auf dem Aktenschrank.

Draußen im grünen Klosterpark lärmen Kinder, eine Spielzeugtrompete trötet. „Das ist eine Oase des Friedens“, sagt De Meo: „Nach den Bombardements in Syrien, den drei bis neun Monaten in der Wüste, dem Elend in libyschen Baracken und auf dem Meer fühlen sich die Kinder hier befreit.“ Sofern sie denn ankommen: „Vor einem Jahr hatte ich junge Eltern aus Syrien da, sie haben ihre vier Kinder auf See verloren. Acht, vier, zwei und ein Jahr alt. Der Vater hat sie auch noch selbst ins Wasser gestoßen.“

Das Grauen auf den Booten. Die Situation war ähnlich wie bei der Katastrophe vom 19.April: Vor lauter Aufregung der Flüchtlinge gerät ein überfülltes Boot exakt bei der Annäherung der Retter ins Schlingern. Der Vater hat Angst, beim Kentern könnten die Kinder mit untergehen, er zieht ihnen Schwimmwesten an und drängt sie von Bord. „Bis heute suchen die Eltern verzweifelt nach ihnen. Sie müssen doch überlebt haben, sie müssen. Aber wer hat sie gerettet, wo sind sie?“

De Meo erzählt von tödlichen Streitigkeiten um Rettungswesten auf den Booten, von Misshandlungen in Libyen, davon, dass man sie „sogar für die Luft bezahlen lässt, die sie atmen“. Er erzählt von einem Gewitter, bei dem im Sudan viele ertrunken sind – „tatsächlich ertrunken! In einer Wüstengegend!“. Er erzählt von Christen aus Aleppo, „die erst fünf zerbombte Mauern überwinden mussten, bevor sie sich aus ihrem Haus befreien konnten“, und vom Besitzer einer syrischen Schuhfabrik, „der erst aufgab, als Granaten alle seine 38 Mitarbeiter getötet hatten“. Diese Leute, sagt De Meo, „erklären mir, dass sie sich in Syrien schon gestorben fühlten. Da machte die Lebensgefahr auf dem Meer für sie auch nichts mehr aus.“

Einmal sei ein Elfjähriger im Klostergarten auf eine Fahnenstange geklettert. „Der Vater saß unten und rauchte. Ich bin hinaus, hab den Vater gewarnt, der Bub könnte herunterfallen. ,Ach‘, hat er gesagt, ,wir haben so furchtbare Dinge erlebt, da ist es nicht mehr schlimm, wenn er sich jetzt das Bein bricht. Hauptsache, er hat ein bisschen Spaß.‘ Und er hat seelenruhig an seiner Zigarette gezogen.“

In der Casa Suraya, betrieben von der Caritas-nahen Sozialkooperative Farsi Prossimo (etwa: „Machen wir uns zum Nächsten für die Bedürftigen“), kommen vor allem Familien unter, bisher fast nur Syrer, „fast alle gehobene Mittelklasse, Akademiker, Ärzte, Ingenieure, einmal die berühmteste syrische Schauspielerin.“ Neuerdings reisen immer mehr Eritreer ein. Die Stadt schickt sie vom Hauptbahnhof her.

Auf welchen Kanälen sie nach drei, vier, fünf Tagen die Weiterreise organisieren, weiß er nicht: „Sie sind dann einfach weg.“ Beziehungsweise: „Es sind schon welche weinend zurückgekommen, einer drei Mal, weil man ihnen wertloses Papier als Bahntickets verkauft hat. Sie haben 3000 Euro ausgegeben und Mailand nie verlassen.“ Wenn Schleuser sich allzu eng und allzu auffällig um die Casa Suraya drängeln, rufe man die Polizei.

Deutschland, gelobtes Land. Aber was passiert, wenn er versuche, die Flüchtlinge in Mailand zu halten? „Dann umarmen sie mich und entschuldigen sich. Deutschland und Schweden, sagen sie, böten mehr Chancen. Sie fragen mich, welche Arbeit etwa mein Sohn habe. Dann muss ich ihnen sagen: Er ist arbeitslos.“ Von 12.000 Flüchtlingen, die in den letzten zwei Jahren bei Farsi Prossimo waren, stellten acht einen Asylantrag in Italien.

Die Gefahr, dass Schutzsuchende in die Hände von Menschenhändlern fallen und mit Leib und Leben für ihre Flucht zahlen müssen, halten Sozialarbeiter gerade in der Verkehrsdrehscheibe Mailand für „sehr groß“. Einblicke in die Transportstrukturen sind aber rar. So versucht die Stadt wenigstens, unbegleitete Minderjährigen zu halten. Wie viele von ihnen unter den 58.000 Flüchtlingen waren, die seit Oktober 2013 durch Mailand gezogen sind, teilt die Stadt nicht mit, nur: „Eine Notlage sehen wir bei Syrern und Eritreern nicht“, meint Gabriella Polifroni vom Sozialdezernat: „Die nicht begleiteten Minderjährigen werden von Polizei, Jugendgericht und Stadt in eigenen Einrichtungen untergebracht. Sie stehen unter dem Schutz des Gesetzes.“

Warten auf den Alpenübergang. Aber ob einer wie Semir sich hier festhalten lässt? Nach 14 Monaten Flucht aus Eritrea? Nach den 1400 Dollar, die „meine Familie und alle unsere Freunde“ allein für die Etappe Sudan–Libyen zahlten, und den weiteren 2000 Dollar für die Überfahrt nach Italien?

Semir ist 17, hochgeschossen und zum Skelett abgemagert. Mit seinem Landsmann Andat (19) sitzt auch er auf einem Mäuerchen vor dem Hauptbahnhof. Und wartet. Auf den letzten Teil der Reise, über die Alpen, nach Deutschland. „Drei Tage noch!“, sagt er zum Abschied. Woher er das weiß?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.04.2015)

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