„Wir werden Migrationswellen haben, die zehn Mal größer sind“

Mogens Lykketoft
Mogens Lykketoft(c) Stanislav Jenis
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Der designierte Präsident der UN-Generalversammlung, Mogens Lykketoft, warnt vor zehnfacher Massenmigration, wenn es in Paris kein Klimaabkommen gibt.

Die Presse: Die UNO wird in diesem Jahr 70 Jahre alt. Wenn man sich die globale Lage anschaut mit Flüchtlingskrisen, Terrorismus, Kriegen, dem Klimawandel und der neuen Eiszeit zwischen Russland und dem Westen – gibt es überhaupt Grund zu feiern?

Mogens Lykketoft: Wir haben viel zu feiern, trotz aller Schwächen. Wir haben immer gewusst, dass die Grenzen der UNO dort liegen, wo die großen Mächte nicht zusammenarbeiten konnten. Was wir in Syrien und in der Ukraine sehen, sind leider nur zwei Beispiele dafür. Diese Grenzen müssen wir überwinden. Auf der anderen Seite haben wir 193 Mitgliedsländer, eine Reihe von UN-Organisationen, die sich um sehr wichtige Probleme kümmern und 120.000 Menschen in UN-Friedensmissionen.

Die großen Mächte – das sind die fünf ständigen Sicherheitsrats-Mitglieder. Ein Veto, und der Rat ist blockiert, Beispiel Syrien. Ist dieses System noch zeitgemäß?

Die Zusammensetzung des Sicherheitsrats ist gar nicht so altmodisch. Aber natürlich spiegelt sie nicht alle Realitäten des 21.Jahrhunderts. Ich hoffe wirklich, dass wir eine repräsentativere Zusammensetzung haben werden, auch mit aufstrebenden Mächten wie Indien. Wir müssen jede Möglichkeit nutzen, um zu versuchen, den Sicherheitsrat repräsentativer und effizienter zu machen. Aber wir wissen auch, wie schwierig es ist, eine Änderung zu erreichen.

Kann und sollte die Generalversammlung eine größere Rolle spielen, wenn der Sicherheitsrat nicht handlungsfähig ist?

Vielleicht in bestimmten Situationen. Aber wo es um Krieg und Frieden und Sicherheit geht, kann nur der Sicherheitsrat handeln. Es ist ein großer Schaden, dass es die Krise zwischen Russland und dem Westen gibt. Es geht ja nicht nur um die Ukraine. Wir müssen zusammenarbeiten, um den Bürgerkrieg in Syrien zu beenden. Wir brauchen Russland als Partner im Nahen Osten generell. Wenn es ein Abkommen zwischen dem Iran und den sechs Mächten gibt, werden wir eine bessere Entwicklung in der ganzen Region sehen. Dass Russland und China hinter dem Abkommen mit dem Iran stehen, ist eines der positiven Zeichen.

Die Generalversammlung soll im September die Nachfolge-Agenda für die Millenniumsziele beschließen. Sie umfasst derzeit 17 Punkte – ganz schön viel.

Diese Nachhaltigkeitsziele zu beschließen ist das Wichtigste, was wir in diesem Jahr tun können. In den letzten 15 Jahren haben wir die extreme Armut weltweit halbiert. Aber die Probleme durch den Klimawandel haben sich verschärft. Die Ungleichheit zwischen den Ländern, und auch innerhalb, ist gestiegen. Wenn man diese Probleme nicht alle gleichzeitig bekämpft, kann man keine nachhaltige Entwicklung schaffen. Anders gesagt: Wenn einige Milliarden Menschen weltweit nach unserem Lebensstil streben, stehen zwei Dinge fest: Sie können ihn nicht erreichen – und wir können ihn nicht halten. Wir müssen anders leben.

Was heißt das konkret?

Das größte und dringendste Beispiel dafür, wie wir handeln müssen, ist der Klimawandel: Wenn wir es nicht schaffen, ihn einzudämmen, werden wir noch zu Lebzeiten unserer Kinder und Enkelkinder sehen, dass viele hunderttausend Menschen migrieren müssen. Wir werden dann Migrationswellen haben, die zehn Mal größer sind als die, mit denen wir es heute zu tun haben. Der erste große Test, ob der Willen, etwas zu verändern, wirklich da ist, ist der Klimagipfel in Paris im Dezember.

Die Dringlichkeit ist seit Langem bekannt, und doch scheitert eine Einigung immer an nationalen Befindlichkeiten. Warum könnte es diesmal anders sein?

Es ist nicht sicher, dass es ein positives Ergebnis geben wird. Aber auch die Entscheidungsträger werden sich immer stärker bewusst, dass es keinen PlanB gibt. Ich sehe die positive Seite: Die EU, die USA und China haben sich verpflichtet, mehr zu tun als jemals zuvor. Vielleicht ist das noch nicht ausreichend, aber vielversprechender als in Kopenhagen vor sechs Jahren.

Kopenhagen hat eine neue UNO-City und versucht, UN-Büros anzuziehen. Wien fürchtet die Amtssitz-Konkurrenz.

Ja, aber ich glaube nicht, dass wir uns in einem harten Wettbewerb um die Jobs befinden werden. Die Organisation UNO ist in gewisser Weise eine immer expandierende Organisation. Es wird für beide von uns sehr viel zu tun geben.

ZUR PERSON

Mogens Lykketoft, Jahrgang 1946, ist Parlamentspräsident Dänemarks. Im September übernimmt er von Sam Kutesa aus Uganda für ein Jahr den Vorsitz der UN-Generalversammlung. Der sozialdemokratische Politiker war unter anderem Finanzminister und Außenminister. Für den UN-Posten war Lykketoft der gemeinsame Kandidat der westlichen Länder.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.04.2015)

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